Ausgeliefert: Roman (German Edition)
Tausendstelsekunde später bewegt sich das Geschoss mit annähernd 800 m/sec und lässt den Lauf auf seinem Weg zum Ziel hinter sich. Das Pulver muss also schnell explodieren und muss vollständig explodieren. Ein Meisterwerk der Chemie. Diese Explosion muss die beste Explosion auf dem ganzen Planeten sein.
Dann kommt kurz die Feinmechanik ins Spiel. Das Projektil selbst muss ein perfektes kleines Artefakt sein, das Beste, was von Menschenhand bediente Maschinen hervorbringen können. Es muss formbeständiger als jegliches Schmuckstück sein, völlig gleichförmig in Größe und Gewicht. Vollkommen abgerundet, vollkommen stromlinienförmig. Es muss eine gewaltige Rotation von den Zügen im Lauf hinnehmen. Es muss ohne die geringste Unregelmäßigkeit, ohne jegliches Taumeln durch die Luft zischen.
Der Lauf muss fest und stabil sein. Er würde nichts taugen, wenn ein vorangegangener Schuss den Lauf erhitzen und
seine Form verändern konnte. Der Lauf muss eine homogene Masse aus perfektem Metall sein, schwer genug, um physikalisch träge zu bleiben. Schwer genug, um die winzigen Vibrationen des Verschlusses, des Abzugs und des Schlagbolzens zu dämpfen. Diese Eigenschaften waren der Grund dafür, dass die Barrett, die Reacher in der Hand hielt, soviel wie ein billiges Auto kostete. Und aus genau dem Grund hatte Reacher seine linke Hand fest um den Gewehrschaft gelegt. Er unterdrückte damit irgendwelche noch verbleibenden Restschwingungen.
Die Optik spielt eine wichtige Rolle. Reachers rechtes Auge befand sich einen Zentimeter hinter einem Leupold & Stevens-Zielfernrohr. Ein Instrument hoher Qualität. Hinter den feinen, in das Glas eingeätzten Linien des Fadenkreuzes konnte man winzig klein die Scheibe erkennen. Reacher musterte sie konzentriert. Dann ließ er den Kolben langsam sinken und sah, wie das Ziel verschwand und der Himmel seinen Platz einnahm. Er atmete wieder aus und starrte die Luft an.
Weil nämlich die Geophysik eine entscheidende Rolle spielt. Licht breitet sich gradlinig aus. Aber außer Licht gibt es nichts, was so etwas tut. Projektile tun es nicht. Projektile sind physikalische Gegenstände und gehorchen wie alle anderen physikalischen Gegenstände den Naturgesetzen. Sie folgen der Erdkrümmung. Achthundertdreißig Meter ist ein nicht unbeträchtlicher Teil dieser Krümmung. Das Geschoss kommt aus dem Lauf und steigt über die Ziellinie, passiert sie dann und fällt unter sie herunter. In einer perfekten Kurve.
Nur dass es keine perfekte Kurve ist, weil die Schwerkraft in der ersten Millisekunde, die das Geschoss unterwegs ist, bereits wie mit einer winzigen, gierigen Hand danach greift. Das Geschoss kann sie nicht einfach ignorieren. Es ist ein knapp sechzig Gramm schweres Bleiprojektil mit einem Kupfermantel, das sich mit fast dreitausend Stundenkilometern bewegt, aber die Schwerkraft verrichtet ihr Werk. Zuerst nicht sehr erfolgreich, aber bald schaltet sich ihr bester Verbündeter ein. Die Reibung. Von der ersten Millisekunde ihrer Reise an
wird das Geschoss durch die Luftreibung abgebremst, und die Schwerkraft bestimmt in immer stärkerem Maß ihr Schicksal. Reibung und Schwerkraft wirken zusammen, um jedes Geschoss in die Tiefe zu ziehen.
Man zielt also ein Stück darüber. Man zielt vielleicht drei Meter über das Ziel, und achthundertdreißig Meter später sorgen die Erdkrümmung und der Sog der Schwerkraft dafür, dass die Kugel dorthin gelangt, wo der Schütze sie haben will.
Natürlich erreicht man dies auch durch eine entprechende Korrektur am Visier oder dem Zielfernrohr, die dafür sorgt, dass sich die Visierlinie entsprechend nach oben verschiebt. Bei all dem darf man die Meteorologie nicht außer Acht lassen. Projektile bewegen sich durch die Luft, und die Luft bewegt sich ebenfalls. Es gibt nur wenige Tage, an denen die Luft völlig ruhig ist. Sie bewegt sich in die eine oder andere Richtung. Nach links oder rechts, nach oben oder unten oder beliebige Kombinationen daraus. Reacher beobachtete die Blätter an den Bäumen und konnte eine langsame, stetige Brise aus dem Norden kommen sehen. Trockene Luft, die sich langsam in seinem Sichtbereich von rechts nach links bewegte. Er zielte also etwa zweieinhalb Meter nach rechts und drei Meter über die Stelle, wo sein Geschoss einschlagen sollte. Er würde das Projektil auf den Weg bringen und es der Natur überlassen, ihre Flugbahn nach links und nach unten zu biegen.
Dem stand freilich die menschliche Biologie im Wege.
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