Ausgeliehen
während die andere Hälfte sich meldet, um zu fragen, ob sie eine gute oder eine böse Hexe sei.
Ian verschwand schon wieder, er lief durch die amerikanische Geschichte, berührte jedes Buch in der obersten Reihe rechts. Loraine flüsterte: »Er lebt ja praktisch hier, der kleine Homosexuelle.«
Ich sagte: »Er ist zehn Jahre alt! Ich bezweifle, dass er überhaupt irgendetwas Sexuelles ist.«
»Tut mir leid, Lucy, ich habe nichts gegen ihn, aber dieses Kind ist schwul.« Sie sagte es mit dem gleichen Vergnügen an ihrem eigenen eingebildeten Edelmut, wie es bei meinem Vater immer zutage trat, wenn er von »Ophelia, meine schwarze Sekretärin« sprach.
Jetzt war Ian in der Belletristikabteilung und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ein großes grünes Buch aus einem hochgelegenen Regal zu ziehen. Eine Detektivgeschichte: Ein Mann, eine Lupe in der Hand, blickte vom blauen Sticker auf dem Buchrücken herab. Ian setzte sich auf den Fußboden und begann die erste Seite zu lesen, als enthalte das Buch alle ungelösten Rätsel der Welt, als könnte alles im Universum auf 132 Seiten gelöst werden. In seiner Brille fing sich das Neonlicht, zwei gelbe Scheiben über den Buchseiten. Er blieb unbeweglich sitzen, bis die anderen Kinder sich versammelt hatten und Loraine sich zu ihm beugte und sagte: »Alle warten auf dich.« Das taten wir nicht – Tony hatte seinen Mantel noch nicht ausgezogen –, aber Ian rutschte auf dem Hintern durch den ganzen Gang zu uns herüber, ohne vom Buch hochzuschauen.
An jenem Tag waren fünf Zuhörer da, alles Stammgäste.
»Gut«, sagte ich und hoffte, Loraine würde jetzt verschwinden. »Wo waren wir stehengeblieben?«
Melissa sagte: »Fräulein Knüppelkuh hat geschrien, weil keiner die Matheaufgabe konnte.«
»Sie hat Fräulein Honig angeschrien.«
»Und sie haben Lesen, Schreiben und Rechnen gelernt.«
Ian seufzte laut und hob die Hand.
»Ja, bitte?«
»Das war alles schon vor zwei Wochen. Aber als wir unsere Heldin zuletzt verlassen haben, hatte sie gerade erfahren, dass Fräulein Knüppelkuh eine Hammerwerferin gewesen war, und wir haben auch von den vielen Folterinstrumenten erfahren, die sie in ihrem Büro aufbewahrt.«
»Danke, Ian.« Er grinste mich an. Loraine rollte mit den Augen – ob sie mich oder Ian meinte, konnte ich nicht sagen – und trottete zurück zum Treppenaufgang. Ich musste Ian fast immer unterbrechen, aber das machte ihm nichts aus. Es gab nichts, was ich tun konnte, um ihn zum Gehen zu bewegen, außer vielleicht, die Bibliothek in Brand zu stecken. An der Bücherausgabe hob ich Futsch, mein Bruder schafft alle für ihn auf, für den Fall, dass er ohne Kindermädchen kam. In der letzten Woche war er fast jeden Tag die Treppe heruntergekommen und hatte keuchend den Kopf über meine Theke gereckt.
Damals, vor jenem langen Winter, erinnerte mich Ian an einen mit Helium gefüllten Luftballon. Es war nicht nur seine Stimme, es war die Art, wie er hochschaute, wenn er sprach, und wie er federnd auf den Zehenspitzen stand, als würde er gegen das Abheben kämpfen.
(Hatte er einen Vorläufer?, fragte Humbert.
Nein. Nein, das hatte er nicht. In meinem ganzen Leben habe ich nie jemanden wie ihn kennengelernt.)
Wenn er kein Buch fand, das ihm gefiel, lehnte er sich an die Theke. »Was könnte ich lesen ?«
»Wie man aufhört zu jammern« , sagte ich dann, oder »Einführung in den Computerkatalog« , aber er wusste, dass ich Spaß machte. Er wusste, dass dies meine absolute Lieblingsfrage war. Dann suchte ich ein Buch für ihn aus – einmal war es D’Aulaires Griechische Mythen , ein anderes Mal Das Rad auf der Schule. In der Regel mochte er die Bücher, die ich für ihn aussuchte, und die D’Aulaires entfachten sein Interesse für Mythologie, das gut zwei Monate anhielt.
Weil mich Loraine rechtzeitig vor Ians Mutter gewarnt hatte, achtete ich darauf, dass er Bücher mit unverfänglichen Titeln und hübschen Einbänden las. Nichts, was Angst machen konnte, kein Ägyptisches Spiel. Als er acht Jahre alt war, kam er mit einem Kindermädchen und lieh sich Ballettschuhe aus. Ein paar Tage später brachte er das Buch zurück und sagte, er dürfe nur »Bücher für Jungen« lesen.
Zum Glück schien seine Mutter nicht viel von Kinderliteratur zu verstehen. So entging ihr Ein Jahr als Robinson – Ein Bubentraum wird Wirklichkeit und Die heimlichen Museumsgäste . Beide Bücher handelten vom Ausreißen, wie ich später feststellte, aber ich könnte
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