Ausgeliehen
Geschichte hieß Die Hand des Nichts . Er schob seine verschwitzten Haare zurück und hüpfte vor mir herum, als erwarte er, dass ich sie gleich las.
»Das sieht ja toll aus«, sagte ich und blätterte ihm zuliebe durch die getippten Seiten. Ich schaute ihn an, als er sich über meine Theke beugte, seine verschwitzten Haare, die jetzt glatt nach hinten gestrichen waren, und sah die seltsamen Flecken über seinem linken Auge, die mir vorher nicht aufgefallen waren. Es waren vier kleine rosafarbene, vertiefte Punkte, alle nur wenige Millimeter voneinander entfernt. Konnten sie von einer Gabel stammen? Ich hatte gehört, dass Lehrer Listen von verdächtigen blauen Flecken und Verletzungen führen müssen, und nun fragte ich mich, ob ich das auch tun sollte. Ich dachte auch an Emily Alden mit diesem riesigen Knutschfleck am Hals, die im letzten Winter behauptet hatte, ihr Bruder habe sie mit einem Schneeball getroffen.
»Es geht um eine Hand«, sagte Ian. »Sie ist völlig unsichtbar und nicht mit einem menschlichen Körper verbunden. Die Geschichte ist wie ein griechischer Mythos, aber am Schluss gibt es einen Mortal , das steht auf einem Extrablatt. Am Ende der Geschichte musst du raten, wer der Mortal ist, dann kannst du die Seite umblättern und nachschauen, ob du recht gehabt hast.«
»Du meinst eine Moral ?«
»Nein, einen Mortal , einen Sterblichen, es ist doch durch die griechische Mythologie inspiriert. Verstehst du? Es ist ein Witz. Außerdem habe ich vergessen, die Seiten zu nummerieren.«
»Für dich werde ich ein Auge zudrücken«, sagte ich. Da wusste ich schon, dass er den ersten Preis der Fünftklässler gewinnen würde, weil es im einzigen anderen Beitrag um irgendeinen Ninja-Kampf ging. Als er gegangen war, las ich sofort den Anfang. Er hatte es in Dunkelblau ausgedruckt:
Die Hand des Nichts
von Ian Alistair Drake
Klasse 5
Es war einmal eine Hand, die aus nichts gemacht war. Sie war unsichtbar für alle Sinne und sie konnte machen, was sie wollte. Ihr Leben war so:
Tag 1: Donuts klauen und sich verstecken.
Tag 2: Die geklauten Donuts essen, mit Hilfe eines Spezialmundes, den sie hatte.
Tag 3: Sich bei den Tyrannen mit Hilfe von Tricks rächen.
Tag 4: Sich unter Felsen im Wald verstecken, auf Ärger warten.
Ich blätterte zum Ende, um die Moral zu entdecken.
Mortal:Man darf nicht mal den Hasen erzählen, wo man sich versteckt, weil Hasen kein Geheimnis für sich behalten können.
Ich fragte mich, warum sich eine unsichtbare Hand überhaupt verstecken musste. Als ich im ersten Jahr den Wettbewerb abhielt, hatte mir ein kleiner, dicker Junge eine Geschichte über Kinder abgeliefert, die sich bis auf fünf Zentimeter zusammenschrumpfen lassen und in Spielzeugautos fahren konnten. Ich weiß noch, dass ich damals dachte, die Phantasiewelt der Kinder sei sehr stark mit ihren eigenen Wünschen verbunden, dieser arme Junge sehnte sich offensichtlich danach, zu schrumpfen. Was sollte das hier nun bedeuten, wenn es von einem Jungen kam, der laut, allgegenwärtig und ziemlich anspruchsvoll war – dieser Wunsch nach einer doppelten Unsichtbarkeit? Obwohl es, wenn ich darüber nachdachte, kein Zufall war, dass er seine freie Zeit in einem ruhigen Raum im Tiefparterre verbrachte, das Gesicht in Biographien von Houdini vergraben. Für die Stadt Hannibal war er bereits halb unsichtbar.
Ich hatte mich mit einer Frau namens Sophie Bennett angefreundet, die in meinem Alter war und die vierte Klasse an der Hannibal Day unterrichtete. Ich beschloss, sie bei ihrem nächsten Besuch nach Ian auszufragen. Fast jedes Wochenende stöberte sie eine Stunde lang die Sachbücher durch und suchte sich ganze Bücherberge über Azteken oder Pilze aus. An diesem Sonntagnachmittag ließ sie sich laut auf einen der kindgerechten niedrigen Computerstühle neben meiner Theke fallen.
»Ich bin so dermaßen verdammt krank«, sagte sie. Sie stellte ihre große Stofftasche auf den Boden neben sich und schaute sich um, um zu sehen, wer hier war. Sie hasste es, ihre Schüler zu treffen. Ein kleines Mädchen, das allein gekommen war, saß an einem Tisch und malte, ein größerer Junge spielte Computerspiele, und einige Schüler der Mittelschule arbeiteten leise mit ihren Tutoren. »Ich glaube, ich war ganze zwölf Tage gesund, seit ich mit dem Unterrichten angefangen habe. Und jetzt haben alle meine Kinder Läuse. Wirklich, fass niemanden an. Fass nicht einmal ihre Mäntel an.«
Ich lachte und ging vor die Theke, damit wir uns
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