Ausgeliehen
die Heimat der Helden ist, wo sind sie dann?«
»Sie machen sich fertig fürs Bett. Sie hatten einen langen Arbeitstag, an dem sie Bücher an sechsjährige Kinder ausgeliehen haben.«
»Hör zu, mein Freund Shapko, der Ukrainer, braucht eine Assistentin für sein Immobiliengeschäft. Das könntest du prima machen.«
»Dein Freund Shapko, den man wegen Postbetrug eingesperrt hat?«
»Das große Geschworenengericht hat ihn nicht einmal angeklagt! Das amerikanische Justizsystem ist recht gut, es sei denn, dein George W. Bush bekommt es in die Hände.«
»Ich fürchte, Dad, das ist schon passiert.«
»Genau!«
Als wir auflegten, hätte ich mich am liebsten vor Lachen geschüttelt und die Augen verdreht, doch zugleich wusste ich, dass es für meinen Vater schrecklich sein musste. Er hatte bei seiner Flucht aus Russland sein Leben riskiert und Amerika aus allen Ländern der Welt ausgewählt, und nun musste er zusehen, wie die Regierung die Fesseln enger zog, alle versprochenen Freiheiten über den Haufen warf und junge Männer ohne Anklage nach Guantanamo verschleppte, ohne Anwälte, ohne Vorwarnung. Für ihn spielte es keine Rolle, dass ihm persönlich nichts passierte. Allein die Tatsache, dass Telefone angezapft wurden, reichte, um ihn instinktiv an den Staatssicherheitsdienst der Vor-Jelzin-Zeit zu erinnern.
Im Mai 2002 hatte ich meine Eltern in ihrer Wohnung in Chicago besucht, und wir saßen gerade beim Abendessen, als das Telefon klingelte. Es war Magda Johnson, eine Freundin meiner Mutter, die während des Zweiten Weltkriegs in Polen aufgewachsen war und jetzt in der Nähe des Lincoln Parks wohnte. Ich konnte ihre Stimme hören, als meine Mutter den Hörer immer weiter von ihrem Ohr entfernte. »Es gibt Explosionen auf der Straße! Jemand schießt oder wirft Bomben, und überall auf der Straße wird geschrien!«
»Es ist Cinco de Mayo!«, sagte ich zu meiner Mutter. »Sag ihr, sie soll die Nachrichten anmachen. Es ist nur ein mexikanischer Feiertag!«
Aber Magda Johnson hörte nicht auf zu schreien, sie war wieder ein fünfjähriges Mädchen in einem Luftschutzkeller, acht Monate lang und vielleicht für den Rest ihres Lebens.
Und ich musste über meinen Vater nachdenken, auch er war nicht darüber hinweg. Er dachte nur, er hätte das alles hinter sich gelassen.
Ich schaute auf die Uhr, um mich zu vergewissern, dass unter mir im Theater die Proben angefangen hatten, dann drehte ich die Musik laut und fing an, zu staubsaugen. Mein Blutdruck war hoch, und da es sich nicht lohnte, einen alten Russen wegen seines Idealismus zu verfluchen, entschied ich mich, meine Laune am Teppich auszulassen. Er wurde nie wirklich sauber, egal was ich unternahm. Manche Stellen hatten die Farbe von Haferflocken, andere waren beige, und einige Flecken sahen wie Details von Tatortfotos aus. Ich musste den Staubsauger vorsichtig zwischen den Bücherstapeln hindurchjonglieren, die wie Möbelstücke herumstanden, als Ablage für Kaffeetassen, eingegangene Post und Magazine. Ich weigerte mich, mir Bücherregale anzuschaffen, aus lauter Angst, ich wäre dann gezwungen, die Bücher streng nach der Dewey-Dezimalklassifikation zu sortieren, oder alphabetisch oder nach noch schlimmeren Systemen. Deshalb lagen die Bücher aufeinander, einige Stapel waren so hoch wie ich, und sie waren nach der subjektivsten Methode sortiert, die ich mir hatte ausdenken können.
So lebte Nabokov zwischen Gogol und Hemingway, klemmte zwischen der alten und der neuen Welt. Willa Cather, Theodore Dreiser und Thomas Hardy stapelten sich übereinander, nicht wegen der chronologischen Nähe, sondern weil sie mich an Trockenheit erinnerten, wobei es bei Dreiser wohl nur der Name war. George Eliot und Jane Austen teilten sich einen Stapel mit Thackeray, weil ich von ihm nur Jahrmarkt der Eitelkeiten hatte; und ich dachte, dass sich Becky Sharp am besten unter Frauen machte (und tief im Herzen fürchtete ich, sie könnte David Copperfield verführen, würde ich sie neben ihn platzieren).
Dann gab es einige Stapel von zeitgenössischen Autoren, von denen ich der Meinung war, sie würden sich auf einer Cocktailparty blendend verstehen, und es gab mindestens drei Stapel mit Büchern, die ich persönlich verabscheute, sie aber dahaben musste, für den Fall, dass jemand sie von mir ausleihen wollte. Da war zum Beispiel ein Reißer über eine Familie von Zirkuskünstlern oder ein experimenteller Roman über eine zeitreisende Nonne. Ich hasste es, sagen zu müssen,
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