Ausgelöscht
hohen Tieren des Mass General, einschließlich der medizinischen Ethikkommission, anzulegen. Genau das hatte er für Snow getan, hatte eine Pressekonferenz abgehalten, um gegen die ursprüngliche Entscheidung der Ethikkommission zu protestieren, Snows Operation aus dem Grunde abzulehnen, dass sie zu aggressiv sei und unvorhersehbare Nebenwirkungen haben könne – einschließlich möglicher Beeinträchtigungen von Snows Seh-, Erinnerungs- und Sprachvermögen. Heller hielt dagegen, dass es Snows Recht sei, selbst zu entscheiden, was er aufs Spiel zu setzen bereit war, um sich von seiner Krankheit zu befreien. Er drohte mit Kündigung, sollte die Kommission auch weiterhin ihre Zustimmung zu der Operation verweigern.
Bostoner Radiomoderatoren wie der legendäre Matty Siegel nahmen sich Snows Sache an. Eine Briefflut überschwemmte das Krankenhaus. Landesweit bekannte und angesehene Ethiker machten sich für ihn stark. Und schließlich trat die Ethikkommission, in einer praktisch nie dagewesenen Kehrtwendung, erneut zusammen und gab grünes Licht für die Operation.
Jetzt war Snow tot, niedergestreckt von einem Schuss ins Herz, keine Stunde bevor er sich unters Messer begeben sollte. Vielleicht war Hellers Entschlossenheit, Snow zu seiner Operation zu verhelfen, stärker gewesen als Snows eigenes Verlangen danach, überlegte Clevenger. Möglicherweise war Snow von der Kampagne, die Entscheidung der Ethikkommission umzustoßen, mitgerissen worden und hatte nicht gewusst, wie er Heller seinen Sinneswandel gestehen sollte. Er könnte auf dem Weg ins Krankenhaus depressiv gewesen sein, unfähig zu entscheiden, ob er das Handtuch werfen und weiter unter unerträglichen Anfällen leiden oder sich einer Operation unterziehen solle, die ihn blind oder stumm machen konnte. Vielleicht konnte er mit keiner der beiden Aussichten leben.
Clevenger parkte vor dem Leichenschauhaus und ging hinein. Am Empfang sagte man ihm, er werde Jeremiah Wolfe, den leitenden Gerichtsmedizinier, im »Kühlraum« finden, wo die Obduktionen durchgeführt wurden. Detective Coady sei bereits bei ihm.
Clevenger ging den Betonkorridor hinunter und trat durch eine Schwingtür in einen eisigen Raum. Jazzmusik erklang blechern aus einem Lautsprecher. Wolfe und Coady standen rechts und links von einem Edelstahltisch, auf dem ein mit einem Laken zugedeckter Leichnam lag. »Doktor Clevenger«, rief Wolfe, »herzlich willkommen.«
Wolfe ging auf die siebzig zu, ein spargeldünner Mann mit Nickelbrille und einem vollen Schopf ungebändigter, unnatürlich schwarzer Haare. Er hatte Clevenger mehr Tote gezeigt, als beiden Männern lieb war.
»Wir scheinen uns niemals aus einem erfreulichen Anlass zu treffen«, bemerkte Clevenger und gesellte sich zu den anderen beiden.
»Berufsrisiko«, erwiderte Wolfe. »Detective Coady«, stellte er vor und deutete mit einem Nicken auf den Mann auf der anderen Seite des Tisches. Coady war eine Bulldogge von einem Mann, um die fünfundvierzig, mit roten Haaren und einem roten Gesicht über einem dunkelblauen Anzug. Er war um die einssiebzig groß und hatte breite Schultern.
»Danke fürs Kommen, Doc«, sagte Coady.
Clevenger schüttelte Coadys fleischige Hand. Dann starrte er auf Snows lebloses Gesicht, aus dem selbst die letzten Reste der grenzenlosen Energie, die einst seinen erfinderischen Verstand und seinen athletischen Körper angetrieben hatte, verschwunden waren. Er wirkte zwanzig Jahre älter als der etwas ungepflegte, doch auffällig gut aussehende Mann, den Clevenger noch vor wenigen Tagen im Fernsehen gesehen hatte; seine Augen, der Intelligenz beraubt, die einst in ihnen gelodert hatte, blickten jetzt scheinbar in weite Ferne, die Haut hatte bereits die graue Färbung von ausgetrocknetem Pergament angenommen, und das volle, silbergraue Haar war blutverkrustet. »Er sieht noch schlimmer aus, als sie es gewöhnlich tun«, bemerkte Clevenger.
»Dafür kann er sich bei der Glock bedanken«, sagte Coady. Er deutete mit einem Nicken auf die blutige 9-mm-Kugel auf dem Edelstahltablett neben dem Tisch.
»Er hat fast siebzig Prozent seines Blutvolumens verloren«, sagte Wolfe.
Vielleicht erklärte das, wie ausgehöhlt Snow anmutete. Doch Clevenger hatte eine Ahnung, dass das nicht alles war. Nichts an Snows Miene vermittelte ihm den Eindruck von innerem Frieden. Zuerst tat er diese Beobachtung ab, sagte sich, dass er mehr in Snows verkniffene Lippen, das vorgereckte Kinn und den suchenden Blick hineinlas, als da war,
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