Ausgelöscht
Prolog
12. Januar 2005, 4 Uhr 40
Die Schatten der Nacht klammerten sich noch an den frostigen Bostoner Morgen, und die Stille wurde nur von einem scharfen, klaren Geräusch gestört, als der Schlitten der Glock-Pistole zurückgezogen wurde, eine 9-mm-Patrone aus dem Magazin sprang und in die Kammer rutschte.
John Snow, fünfzig Jahre alt, M. I. T.-Professor und genialer Erfinder, stand in einer Seitengasse der Francis Street zwischen den Blake- und Ellison-Türmen des
Massachusetts General Hospital
. In einer Stunde wurde er dort für einen experimentellen neurochirurgischen Eingriff erwartet, eine Operation, die sein Leben grundlegend verändern würde.
Er sah auf die Pistole, die sich gegen seine Brust drückte. Sein Puls raste vor Angst, doch es war eine distanzierte Angst, so als wäre er Zeuge der Erschießung von jemand anderem. Er fragte sich, ob es daran lag, dass er sich bereits von den Menschen verabschiedet hatte, die er liebte – oder einmal geliebt hatte.
»Das kannst du nicht tun«, sagte er mit zitternder Stimme, und seine Worte hallten leise von den Gebäuden wider.
Abermals herrschte Stille. Ein eisiger Nieselregen setzte ein. Die Pistole zitterte leicht.
»Wenn du je mehr sein möchtest, als du bist, dann musst du bereit sein, dich neu zu erschaffen.«
Die Pistole hörte auf zu zittern.
In der Ferne waren Schritte zu vernehmen. Er sah die Gasse hinunter, während eine schwache Hoffnung sein Herz ergriff.
Der Lauf der Pistole berührte seine Brust knapp unterhalb des Sternum.
Er schloss die behandschuhte Faust darum.
Der Lauf drückte fester gegen ihn.
Die Schritte kamen näher.
»Du darfst dich nicht an die Vergangenheit klammern«, brachte er mit zusammengebissenen Zähnen heraus.
Der Abzug der Pistole begann sich zu bewegen.
Er sank auf die Knie und sah hinauf in die Dunkelheit, nunmehr sprachlos, während sein Verstand einen, wenn auch schwachen, Trost in den Worten fand, die ihm während seiner medizinischen Odyssee Kraft gegeben hatten, Worte aus der
Bhagawadgita
, dem heiligen Hindu-Text, der schon Thoreau und Ghandi inspiriert hatte:
Jedem, der geboren wurde, ist der Tod gewiss,
und jedem, der gestorben ist, ist die Geburt gewiss.
Deshalb solltest du bei der Erfüllung
deiner unausweichlichen Pflichten nicht klagen.
Die Pistole wich einige Zentimeter von seiner Brust zurück.
Seine Lippen verzogen sich zu einem grimmigen Lächeln.
Der Abzug bewegte sich von neuem.
Er fühlte den Schmerz, noch bevor er den Knall hörte, einen Schmerz, der alles überstieg, was er je empfunden oder für möglich gehalten hatte, als würde ein Blitz in ihn fahren und ihm wie flüssiges Feuer durch Brust, Arme, Beine, Unterleib und Kopf laufen, so dass er kaum noch sehen und schon gar nicht spüren konnte, wie sein Blut sein Hemd und seine Hände tränkte, ihm zwischen den Fingern hindurchrann und auf das Pflaster tropfte. Es war ein Schmerz, der alles auf seiner Bahn auslöschte, so dass er schon im nächsten Moment zu groß schien, als dass Snows Körper und dann auch Snows Verstand ihn überhaupt fassen konnten. Und dann existierte der Schmerz plötzlich nicht mehr. John Snow war davon befreit, genau wie von seinem Leiden und von allen Menschen – so, wie er es gewollt hatte.
1
Um 4 Uhr 45 schoben Sanitäter John Snow hastig auf einer Rolltrage in die Notaufnahme des
Mass General
. Er war bewusstlos, und sein Atem ging flach. Die Sanitäter hatten ihr Eintreffen per Funk angekündigt. Snow sei Opfer einer selbst beigebrachten Schusswunde in der Brust, hieß es. Snows Neurochirurg, J. T. »Jet« Heller, neununddreißig, war einer aus der Gruppe von sechs Ärzten und fünf Krankenschwestern, die sich versammelt hatten, um den Notfall zu behandeln.
Der Assistenzarzt Peter Stratton hatte den Schuss auf dem Heimweg von seiner Nachtschicht gehört und sofort auf dem Handy 911 angerufen. Ein Streifenwagen kam, und man fand Snow in der Gasse, zusammengesackt in einer Blutlache. Arme und Beine hatte er eng an die Brust gezogen, in Fötalhaltung. Eine schwarze Reisetasche und eine Glock-9-mm-Pistole lagen neben ihm auf dem Pflaster.
Snow erhielt noch vor Ort erste Hilfe, aber als die Trage über die Schwelle der Notaufnahme geschoben wurde, setzte das EKG aus. Das Team holte ihn mit Defibrillationsschocks dreimal wieder zurück, doch sein Puls schlug nie länger als einige Sekunden.
Heller erwies sich als Held der Stunde und versuchte es mit allen nur denkbaren Wiederbelebungsmaßnahmen,
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