Ausgewechselt
gefälligst die Klappe.« Dann riss er plötzlich den Helm hoch. Die beiden zuckten zusammen, vielleicht hatten sie Angst, er wollte ihnen etwas tun, doch Leo setzte sich lediglich den Helm auf und startete die Maschine, wie ein Reiter, der seinem Pferd die Sporen gab. Mit Vollgas raste er davon.
Viola sah ihre Freundin verwirrt an. »Was für ein Abgang! Der hasst mich.«
»Wer ist das überhaupt?«, fragte sie, während sie den graublauen Auspuffwölkchen hinterhersah, die sich langsam verflüchtigten.
Viola zuckte mit den Schultern. »Einer aus meiner Klasse.«
Ihre Freundin wandte sich um und begann erneut zu kichern: »Wie schade, dass er dich nicht mag, der sieht echt verdammt gut aus.«
Viola zog die Augenbrauen hoch. »Verdammt gut aussehend? Verdammt dumm! Und aggressiv, hast du das gesehen? Ich dachte, er wollte uns schlagen, als ob es unsere Schuld wäre, dass er so faul ist und nicht lernt. Armer Idiot.«
Die hektische Röte in ihrem Gesicht war verschwunden, aber sie spürte eine große Wut im Bauch. Warum hatte sie auf die Beleidigungen nichts erwidert? Warum hatte sie ihm nicht die Meinung gesagt? Stattdessen hatte sie sich sogar noch entschuldigt und gesagt, es täte ihr leid! Es tat ihr gar nicht leid, dass Leo sich lächerlich gemacht hatte, ganz im Gegenteil. Sie freute sich, dass sie die Antwort gewusst hatte und er nicht. Die Klappe halten? Auf keinen Fall, sollte er doch lieber seine halten, diese arrogante Null!
Training 1
»Mehr Rhythmus!« Die Anweisung vom Laufbahnrand kam wie ein Peitschenhieb. Die Beine verstanden den Befehl schneller als das Gehirn, der Körper spannte sich wie eine Bogensehne, bereit für den nächsten Sprung, das rechte Bein schoss nach vorne, das linke dehnte sich nach oben, die Arme lösten sich vom Oberkörper, der Blick ging starr geradeaus. Die Hürde vibrierte, als der linke Fuß sie touchierte, sie wackelte und fiel um.
Der Trainer klatschte in die Hände: »Nein, nein! Mehr Kontrolle!« Er zählte ihre Schritte zwischen den Hürden mit, sechs, sieben, acht, schüttelte dann entnervt den Kopf und murmelte: »So geht das nicht, das reicht nicht.«
Vor der letzten Hürde musste sie den Rhythmus wechseln und sich dann auf den Endspurt konzentrieren, aber ihr Körper war bereits erschöpft, sie warf auch diese Hürde um und stürzte mit letzter Kraft ins Ziel. Mit den Händen auf den Knien beugte sie sich nach vorne, um wieder zu Atem zu kommen. Der Trainer blieb reglos stehen, die Arme vor der Brust verschränkt, die Schirmmütze tief ins Gesicht gezogen, die Lippen fest aufeinandergepresst. Das war keine gute Vorstellung gewesen.
Die Hände in die Nieren gestützt und immer noch außer Atem, ging sie langsam auf ihn zu und sagte entschuldigend: »Ich war unkonzentriert.«
»Das habe ich bemerkt«, knurrte er und ließ die Arme sinken. Er blickte auf die Stoppuhr. Dann hob er den Blick und fragte verständnisvoll: »Irgendetwas nicht in Ordnung?«
»Nein, Sirio. Es ist nur … Ich muss viel lernen. Morgen schreiben wir Mathe, das wird hart, fürchte ich.«
»Nimm dir das nicht so zu Herzen. In Mathe bist du doch gut, oder?«
Etwas unsicher antwortete sie: »Ganz okay.«
Der Trainer schüttelte lächelnd den Kopf. »Ganz okay … Du bist nie zufrieden, was? Du willst immer das Maximum.«
Sie nickte. Sirio klopfte ihr auf die Schulter. »Wenn das auch für Sonntag gilt, hast du die Medaille so gut wie in der Tasche.«
Sie spuckte auf den Boden und meinte wenig überzeugt: »Da sind starke Gegnerinnen dabei, am Sonntag.«
Sirio warf ihr einen ironischen Blick zu. »Ja, die sind ganz okay.«
»Nimm mich nicht auf den Arm! Das ist immerhin ein landesweiter Wettkampf!«
»Ja und? Meinst du, ich würde dir meine wertvolle Zeit opfern, wenn ich nicht an deine Chance glauben würde? Zieh dich um, wir sehen uns morgen, gleiche Zeit.«
Vielleicht war er doch etwas grob gewesen. Als sie sich auf den Weg in die Umkleide machte, rief Sirio ihr nach: »Viola!«
Sie drehte sich um, abwartend schob sie eine widerspenstige Haarsträhne hinters Ohr. Sirio zwinkerte ihr zu. »Toi, toi, toi für die Mathearbeit!«
»Danke«, antwortete sie lächelnd.
Ihre Mutter Patricia war nicht zu Hause. Die Luft war erfüllt von Zigarettenrauch, der Aschenbecher quoll über. Viola hielt die Luft an, während sie das Fenster aufriss. Ein Schwall kalter Luft vertrieb den stickigen Mief aus dem Zimmer. Dann begann sie aufzuräumen und die Hinterlassenschaften ihrer Mutter zu
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