Auslegware
ich kaum noch laufen konnte. Auf Krücken hatte ich mich in die Arbeit geschleppt, allein schon, weil ich da relativ frisch angefangen hatte und meinen Job gefährdet sah. Doch am Montag meldete ich mich mit einer Genugtuung krank, die mich wieder besänftigte. Ich wusste selbst, dass ich das nicht die ganze Woche durchziehen konnte. Irgendwann würde ich einen Arzt aufsuchen und ihm etwas vorlügen oder vorspielen müssen. Spätestens dann würde es rauskommen, denn ich war ein ausgesprochen miserabler Schauspieler. Vielleicht mochte ich deswegen keine.
Am Abend rief Holger an und erkundigte sich nach meinem Gesundheitszustand. Etwas, was er noch nie gemacht hatte – ganz abgesehen davon, dass ich auch noch nie krank gewesen war. Woher er meine Telefonnummer haben konnte, war mir im selben Moment klar, als er sich zu erkennen gegeben hatte. Wahrscheinlich war Daniela von der Personalabteilung so freigiebig mit meinen persönlichen Daten gewesen.
„Am Samstag zu viel gebechert?“, wollte er wissen. Das hämische Grinsen konnte ich bis zu mir sehen.
„Tu nicht so scheinheilig“, blaffte ich ihn an.
„Wenn ich wüsste, auf welchen Schlips genau ich getreten sein soll, könnte ich dir vielleicht sogar recht geben“, erwiderte er unbeeindruckt. „Also raus mit der Sprache!“
Ich schnaufte tief. Es war ohnehin schon alles ein einziges Chaos. Da machte es nichts mehr aus, wenn ich es ihm erzählte.
„Der Typ im Baumarkt, vor dem du mich ein paar Mal gewarnt hast“, gab ich ausweichend von mir. Es fiel mir nicht leicht, ihm das zu beichten. Immerhin waren wir nie so gut Freund gewesen, um an der Schulter des anderen eine Lebensbeichte abzuhalten.
„Ah, Liebeskummer“, kicherte Holger. „Ich wusste es. Der will nichts von dir wissen, oder?“
„Ganz im Gegenteil. Das ist Mary.“
„Wie bitte?“
„Der Kerl aus dem Gay-Klub, der neulich aufgetreten ist … Der Typ im Baumarkt und Mary sind ein und dieselbe Person.“
„Ah“, gab Holger lang gezogen von sich, als er die Sachlage verstand, und brach in lautes Lachen aus. Es brauchte eine Weile, ehe er sich beruhigen konnte. Ich wartete geduldig ab, da ich keinerlei Lust verspürte, gegen seinen dröhnenden Bass anzutönen oder mich zu rechtfertigen.
„Jetzt verkriechst du dich also vor Scham in deinen vier Wänden“, erriet Holger kichernd.
„Du wusstest davon“, sagte ich ihm auf den Kopf zu. „Du wusstest, dass er der Kerl ist.“
„Nein, wusste ich nicht“, widersprach er energisch. „Frank wird es freuen. Er war ganz entzückt von der Aufführung. Kommt doch mal bei uns vorbei.“
Ich knurrte wütend. „Dich hat wohl jemand zu oft gefickt“, motzte ich. Mein Finger schwebte bereits über dem roten Knopf. Ich war es leid, mich noch weiter mit ihm zu unterhalten.
„Gut möglich“, blieb Holger gelassen. „Aber im Gegensatz zu dir habe ich keine Angst, jemanden an mich heranzulassen.“
„Du hast doch keine Ahnung“, maulte ich gereizt.
„Gut möglich“, entgegnete mein Kollege erneut, ohne dass er Anzeichen zeigte, dass ihn mein Tonfall oder meine Beleidigungen angegriffen hätten. „Wenn du irgendwann einmal auf dem Stand bist, Hilfe anzunehmen oder einfach über deine Probleme reden möchtest, du weißt, wo du mich finden kannst.“ Mit dem letzten Wort brach die Verbindung ab, ein Zeichen, dass ich ihn tatsächlich getroffen hatte.
Aber das war mir egal. Holger war mir noch nie so nahe gewesen, dass ich ihm nun eine Träne nachweinen müsste. Mit ihm hatte ich nun den zweiten Kollegen verloren, aber auch das war mir egal.
Sie konnten mir alle gestohlen bleiben.
Ich war das ganze letzte Jahr allein zurechtgekommen, ohne dass mir jemand das Leben madigmachen konnte. Ich brauchte derartigen Scheiß nicht. Das Einzige, das ich brauchte, war meine Ruhe … und vielleicht endlich einen Hintern, der sich von mir durchvögeln ließ.
Aber nicht mehr im Gay-Klub. Es gab Dutzende von Bars und Klubs, in denen sich Homosexuelle trafen, mindestens ebenso viele von Cruising-Treffpunkten, wo man einfach nur jemanden für eine schnelle Nummer zwischendurch abgreifen konnte. Warum war mir das nicht schon vorher eingefallen?
Ich machte mich also fertig, um die Wohnung zu verlassen. Frisch geduscht, geschniegelt und gestriegelt und mit ausreichend Kondomen versorgt, öffnete ich die Haustüre und fand mich unversehens Auge in Auge mit Marius, der eben im Begriff war, auf den Klingelknopf mit meinem Namen zu drücken. Wobei Marius
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