Ausnahmezustand
Ausbeutung der Muslime durch die Pandits schildert und an die britische Kolonialverwaltung appelliert, endlich einzugreifen: «Everywhere the people are in the most abject condition.» Es werden nicht nur ein paar militante Gruppen gewesen sein, die das asienübliche Wir-sind-alle-Brüder mehr im Sinne Kains auslegten.
Auf dem Land
In der Luft des Mattin Suriyat Tempels liegt Frieden, wirklicher Frieden: Sikhs, die an der Tempelwand Kricket spielen, muslimische Alte, die sich auf der Wiese räkeln, ein paar ältere Pandits, die mir einen Stuhl anbieten. Weder die indische Regierung noch die Lokalregierung in Kaschmir tue etwas, um die Vertriebenen zurückzuholen oder sie wenigstens zu entschädigen, beklagen sie und lassen asienüblich nichts auf ihre muslimischen Nachbarn kommen. Von den zwei Toten, die sie hier im Dorf hatten, war ja einer selbst Muslim, sagen die Pandits, der Wächter des Tempels, den die auswärtigen Kämpfer für einen Hindu gehalten hätten. Zwei Frauen sehe ich, die mit den Händen im großen Wasserbecken spielen, die Jüngere von himmlischer Schönheit, wie man sie in Märchen geschildert bekommt. Sekundenverliebt, sie oder tot, frage ich die beiden, ob sie hier wohnen – ja – und wie das Leben für sie jetzt ist – gut. Es klingt ehrlich, und so freue ich mich, daß auch jüngere Pandits in Kaschmir anzutreffen sind, bis sich herausstellt, daß die Frauen Musliminnen sind. Für das Foto zieht dieHimmlische leider das Tuch über den Kopf, als ob sie sich in dem Becken mit allen Märchenwassern gewaschen hätte. Von fünfhundert Hindu-Familien, die einst hier lebten, sind dreizehn geblieben, und fast nur die Alten unter ihnen. Rings um den Tempel abgebrannte Häuser, leerstehende Häuser, an einem Fluß Verkaufsstände für Ausflügler. Die Farben der Süßspeisen, die Farben der herbstlichen Wälder, die Farben der Felder und Wiesen, die Farben der Saris – man muß nicht überlegen, welche Farbtöne man sieht. Man muß lange hinschauen, bis man herausfindet, welchen Ton die Frauen meiden, nämlich nur grau. Ansonsten tragen sie sämtliche Grund- und Mischfarben in allen erdenklichen Kombinationen, außerdem gelegentlich Schwarz oder Weiß, und bei aller Vielfalt immer harmonisch wie durch einen Automatismus.
Ich fahre weiter nach Osten, durch Dörfer mit engen Gassen und Steinhäusern, die mehr nach Schweiz als nach Südasien aussehen. Die extreme Armut, sonst in Indien allgegenwärtig, scheint es in Kaschmir nicht zu geben. Die Familien besitzen Land. Aufgrund seiner Autonomie ist Kaschmir der einzige Bundesstaat Indiens, der nach der Unabhängigkeit die Bodenreform durchsetzen konnte. Hinzu kommt das Geld, das Indien und Pakistan während des Krieges nach Kaschmir pumpten, um die Führer des Widerstands entweder zu stärken oder zu kaufen. In den neuen Villen sitzen die alten Warlords.
Im Wahlbezirk Mehbooba Muftis, durch den ich vorgestern in der Staatskarosse fuhr, treffe ich die Menschen, die niemals winken würden: Gespräch mit dem Filialleiter einer Bank, der auf die Inder schimpft, die seine Bank bewachen, und sich das islamische Reich herbeiwünscht, neben ihm seine unverschleierte Angestellte, die die Augen verdreht. Der Kampf sei noch lange nicht zu Ende, nur unbewaffnet jetzt eben, aber keinesfalls an Wahlurnen zu gewinnen, die die Inder bereitstellen. Am Ende wäre der Filialleiter aber mit dem gleichen zufrieden wie die Anglistik-Professorin, der Kommunist Tarigami, die Widerstandsgruppen und fast alle Parteien nicht nur in Kaschmir, sondern auch in Pakistan und Indien: Autonomie und offene Grenzen. Das ist mir schon auf vielen Reisenaufgefallen: Die Konflikte, die so hoffnungslos kompliziert erscheinen wie zwischen Israel und Palästina oder in Afghanistan, sind die Ausnahme. Die meisten Konflikte, etwa in Aceh, in Tschetschenien oder eben auch in Kaschmir, wären lösbar, die Bereitschaft zum Kompromiß hat sich längst eingestellt – es müßte sich nur jemand dafür interessieren, Druck ausüben auf die Akteure, wie es nach dem Tsunami tatsächlich in Aceh geschah, als innerhalb von Monaten Friedensverhandlungen nicht nur begonnen, sondern zum Abschluß geführt wurden.
Samir und Riaz, beide Akademiker, Mitte dreißig und Väter, Informatiker der eine, Angestellter der andere, zeigen mir ihre Kleinstadt, in der keine Häuserwand steht ohne Einschläge von Geschoßgarben. In der Gegend hier lag das Zentrum des Aufstands. Am Rande eines Fußballplatzes setzen wir
Weitere Kostenlose Bücher