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Ausnahmezustand

Ausnahmezustand

Titel: Ausnahmezustand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Jahre. Mal wurde ihnen eine Million Rupien angeboten, etwa achtzehntausend Euro, falls sie ihre Kampagne aufgäben, mal sechshunderttausend plus eine Anstellung, mal vom Militär, mal vom Bundesstaat. Manche Familien sind darauf eingegangen.
    Sieht Parweena Ahangir einen Unterschied zwischen dieser und den vorherigen Regierungen in Srinagar? Nein. Oder doch: Die neue Koalition hat beschlossen, einen DNA-Test durchzuführen, wenn Leichenteile gefunden werden. Manche Tote konnten dadurch identifiziert werden. Sie vertraue auf Gott, daß ihr Sohn nicht als Kadaver wiederkehre. Die Behauptung des jetzigen Ministerpräsidentenvon Kaschmir, wonach dieses Jahr zum ersten Mal seit Ausbruch des Aufstands keine Vermißten mehr gemeldet worden seien, könne schon stimmen. Die Armee wolle solche Fälle nicht mehr. Sie sei dazu übergegangen, die Leichen auf einem Feld oder entlang einer Straße abzulegen, mit einem Maschinengewehr in der Hand.
    – Es gibt also keine Vermißten mehr, sondern nur noch Tote?
    – Ja, derzeit haben wir keine neuen Mitglieder.
    Was ist Parweena Ahangirs Hoffnung für Kaschmir?
    – Die Armee soll sich zurückziehen! antwortet sie: Ich bin keine politische Aktivistin. Ich kämpfe nicht für die Unabhängigkeit Kaschmirs. Wenn mein Sohn nach Hause kommt, das ist meine Freiheit.
Hausboot 6
    Der erste Händler des Tages, der das Hausboot geentert hat, läßt mich links liegen und preist den Indern die Qualität und den Preis seiner Lederjackenkollektion an, vergeblich, obwohl die Jacken
doublelined
sind, wie der Händler mehrmals betont. Mich scheint er tatsächlich dem Personal des Hausbootes zuzuschlagen, versucht es nicht einmal mit seinen doppelt genähten Jacken, sondern bedankt sich nur, als ich ihm mit den Beinen den Rückweg auf seine Gondel freimache. Jetzt zieht wieder der
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vorüber, dann sicher bald auch der Supermarkt und zuletzt der Gondoliere, der fragt, ob ich die zugesagte Bootsfahrt denn heute anzutreten gedenke.
Ahad Baba
    Weil schon der verstorbene Baba Schukur-e Din mich entrückte, fahre ich im Morgengrauen mit noch größerer Erwartung als einige Tage zuvor die zwei Stunden nach Sokkur, um vor dem Abflug doch noch einen lebendigen Heiligen zu sehen, der diesmal aufdem Rasen sitzt, ein auffallend heller Greis mit langen Haaren und kleinem, kugelrundem Bäuchlein, nackt wie immer, splitterfasernackt, hinter ihm ein Sessel so blau wie von IKEA. Ein Helfer nimmt die Mitbringsel der Pilger entgegen, die sich zu Hunderten am Gartenzaun drängen, Briefe, Kleidungsstücke, Photos, und reibt sie am Oberschenkel Ahad Babas, der den Kopf bewegt, im Abstand von vielleicht zehn Sekunden spuckt und längst jenseits der Sprache ist. Von hinten tippt jemand an meine Schulter, führt mich an das kniehohe Holztor, das in einem deutschen Schrebergarten stehen könnte, und schließt es hinter mir wieder zu. Ich habe keine Ahnung, ob ich mich Ahad Baba nähern darf, nähern soll und mit welchen Gesten, Worten, Blicken, weiß nur Hunderte, gar tausend Augen auf mich gerichtet. Als ich bereits auf Ahad Baba zugehe, fällt mir ein, daß ich den heiligen Rasen mit Schuhen betrete, genau gesagt fällt es mir nicht ein, sondern weist mich das Grummeln der Menge auf den Fauxpas hin. Gehe ich zurück, um die Schuhe auszuziehen, errege ich noch mehr Aufmerksamkeit, sie mitten im Heiligtum liegenzulassen, kommt ebenfalls nicht in Frage, also hoffe ich auf meinen Bonus als Fremder. Erst verbeuge ich mich stehend, dann knie ich mich einen Schritt entfernt von Ahad Baba hin, der weiter spuckt, dann verbeuge ich mich kniend, und weil immer noch nichts geschieht, warte ich einfach ab, ohne eine Aura oder gar einen Segen zu spüren, im Gegenteil: Von einer gläubigen Menge beobachtet, die einmal bereits gegrummelt hat, und einem splitterfasernackten Heiligen gegenüber, der mich vollständig ignoriert, möchte ich mich lieber in Luft auflösen. Aber nicht einmal dieses Wunder geschieht.
    Plötzlich blickt mich Ahad Baba mit undurchdringlichen Augen an. Was passiert jetzt? frage ich mich noch, als ich schon die Spucke auf der Nase spüre. Zu meiner eigenen Überraschung bin ich alles andere als gekränkt, nehme vielmehr die Spucke, die mir über die Lippe fließt, wie gottgegeben hin und fühle mich sogar ein wenig geehrt, überhaupt wahrgenommen zu werden. Wie auf Knopfdruck hat sich die Anspannung gelöst, ich höre auch kein Grummeln mehr im Rücken, so daß ich einige Minuten mit der Spuckeim

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