Ausnahmezustand
Gesicht verweile, die auf mein Hemd fließt, und warte, was als nächstes geschieht, bis Ahad Baba genauso plötzlich, wie er meine Nase bespuckt hat, mich anlächelt. Ich verbeuge mich zweimal zum Abschied, einmal im Knien, einmal im Stehen, und gehe auf meinen Schuhen rückwärts durch das Gartentor.
In Kaschmir, weit weg von Kaschmir
Auf der Fahrt zurück setzt mich Faroq mit einem erleichterten Seufzer, endlich eine touristische Attraktion zeigen zu dürfen, an einem der Moghulgärten ab, der mich wohl auch deshalb überwältigt – mehr sogar überwältigt als der Heilige, zu dem ich so erwartungsfroh hinfuhr –, weil ich mir vom Standardprogramm der indischen Touristen nicht viel versprach, und dann ist es doch jenes Paradies auf Erden, das kein Bericht über den Krieg unerwähnt läßt, die riesigen, nein riesenhaften grün-roten Bäume, die unfaßbare Ordnung der Brunnen und Bäche, Blumenbeete und Wasserfälle, davor der schillernde Dal-See mit den schwarz glänzenden Giebeldächern und Kuppeln Srinagars im Hintergrund, im Rücken die braunen Berge, die Farben des Herbstes, die nicht minder leuchten als die Farben der Saris. So begeistert bin ich, daß ich mich trotz der Warnung Faroqs, das Flugzeug nach Delhi zu verpassen, zum Hausboot zurückbringen lasse, um mit der Fahrt auf der Gondel rasch noch Standardpunkt zwei zu absolvieren. Hier müßte man auf Erden wohnen, sehe ich ein, als ich an den Hausbooten am anderen Ufer des Dal-Sees vorbeigleite: in Kaschmir, weit weg von Kaschmir.
Sollte ich wiederkehren – und ich habe es Faroq versprochen, der sein Leben lang das Papiertaschentuch aufbewahren wird, mit dem ich mir im Auto die Spucke abwischte, habe ihm versprochen, das nächste Mal mit Frau und Kindern zu kommen, um noch so viele Standards zu absolvieren –, sollte ich also als Urlauber wiederkehren, würde es mir dennoch schwerfallen, nicht wieder auf dem Hausboot nahe der Straße zu übernachten, mit dem
Paris PhotoService
, der jeden Morgen vorbeirudert, dem schwimmenden Supermarkt und dem Bootsherrn, der mit dem süßen Jasmintee auch alle Neuigkeiten liefert. Schön wäre es, dann auch den Ingenieur aus Kalkutta wiederzutreffen und seine Familie.
OHNE BODEN
Zwischen Agra und Delhi, September 2007
Lumpenproletariat formiert sich
Ein Bild wie von Brecht, Lumpenproletariat formiert und wehrt sich: Fünfundzwanzigtausend Menschen, die in drei Reihen marschieren, die meisten in Gummisandalen, viele barfuß, in der Mitte die Frauen in bunten Saris, außen die Männer in cremefarbenen Hemden und ebensolchen Dotis, den um die Beine geschlungenen Tüchern. Die Männer tragen ihr Bündel aus Plastikfolie auf der Schulter, die Frauen balancieren es auf dem Kopf. Jeder einzelne hält einen langen Stock mit einer grün-weißen Fahne von
Ekta Parishad
in der Hand, der indischen Landrechtsbewegung. Zwischen den Reihen Platz für die Ordner, Musiker und Sänger, nötigenfalls Jeeps oder andere Fahrzeuge. Vor jeder Tausendschaft ein Traktor, der einen Wassertank zieht, dahinter eine Fahrradrikscha mit zwei großen Lautsprechern aus Blech, der eine nach vorne, der andere nach hinten gerichtet. Es ist so laut wie fast immer in Indien.
Die Gesichtszüge und -farben sind in jeder Tausendschaft anders, auch die Muster der Saris, der Schmuck, die Zurückhaltung oder Selbstsicherheit der Frauen, die Sprache, weil die Marschierenden aus ganz Indien stammen. Viele Landlose sind schon alt, Greise unter ihnen, damit in ihren Dörfern die Jüngeren weiter arbeiten können, obschon ich später feststellen werde, daß die Kastenlosen, Angehörigen der Unteren Kasten und Stammesmitglieder schon mit fünfzig aussehen wie Europäer mit achtzig. Seit zwölf Tagen marschieren sie, hundertfünfzig Kilometer bereits, zweihundert Kilometer stehen ihnen noch bevor, bis sie das Parlament in Delhi erreichen, sofern die Behörden weiterhin den Weg freimachen, der nicht idyllisch ist, sondern Autobahn, der Highway von Bombay nach Delhi. Hinter der Leitplanke staut sich der Verkehr. Nicht alle Autofahrer wirken begeistert.
Why complain?
Indien boomt. Über neun Prozent Wirtschaftswachstum jährlich, weltweit konkurrenzfähig die Informationstechnologie, Pharmazie, Biotechnologie, Raumfahrttechnik, Nuklearindustrie und natürlich der Dienstleistungssektor, der inzwischen nicht mehr nur Aufträge aus dem Westen abzieht, sondern auch Mitarbeiter: die Löhne zwar nicht höher, aber das Leben viel billiger, schwärmt ein
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