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Ausser Dienst - Eine Bilanz

Titel: Ausser Dienst - Eine Bilanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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medizinischen und zugleich philosophischen Lehrern Europas. Platon und Aristoteles wurden uns nicht etwa über Athen oder Rom, sondern durch die gelehrten Zentren arabischer Muslime tradiert. Wir besäßen heute wahrscheinlich nur eine geringe Kenntnis von den wichtigsten Texten der Griechen, wenn es nicht die arabisch-muslimische Übersetzungsarbeit gegeben hätte. Diese fruchtbare interreligiöse Zusammenarbeit wurde durch die spanische Reconquista, die christliche Rückeroberung der Iberischen Halbinsel, beendet, die religiös und machtpolitisch zugleich motiviert war. Als 1492 unter den »katholischen Königen« Ferdinand und Isabella die Reconquista vollendet wurde, hat man sogleich auch die Juden vertrieben. Es war für fast ganz Europa das Ende jeder religiösen Toleranz.
    Friedliches Zusammenleben zwischen Menschen verschiedener ethnischer Zugehörigkeiten und verschiedener Religionen ist aber auch heute möglich. Ein gutes Beispiel bietet Singapur, wo allerdings eine straffe, autoritative Führung regiert. Ein anderes Beispiel glaubte ich 1986 in Indonesien gefunden zu haben. Indonesien ist mit 240 Millionen Menschen der bei weitem bevölkerungsreichste Staat unter allen muslimisch geprägten Ländern. Auf Tausende von Inseln und Inselchen, über Tausende von Kilometern verstreut, gibt es vielerlei religiöse und ethnische Minderheiten. Nach der blutigen Selbstbefreiung von jahrhundertelanger niederländischer Kolonialherrschaft ersetzte der diktatorisch regierende Staatspräsident Sukarno eine Vielzahl von Sprachen durch einen einzigen, obendrein vereinfachten malayo-polynesischen Dialekt, Bahasa Indonesia. Für die Masse der Einwohner handelte es sich um eine neue, einfach zu erlernende Kunstsprache, die sich in den Zeitungen, im Fernsehen, in den Ämtern allmählich durchsetzt.
    Ungleich wichtiger und schwieriger war aber Sukarnos Kunststück, sowohl den Muslimen als auch den Angehörigen der anderen Religionen (einschließlich der Christen) beizubringen, daß sie tatsächlich alle an ein und denselben Gott glauben; der Glaube an Gott wurde zu einem der fünf Grundwerte der Verfassung. Entsprechend dieser Staatsdoktrin haben sich damals die Politiker und die Militärs bei ihren öffentlichen Auftritten verhalten. Heute, mehr als zwanzig Jahre nach meinem Besuch in Indonesien, bin ich nicht mehr sicher, ob meine positiven Eindrücke sich bestätigen würden, ob es überhaupt eine Chance gibt, daß Indonesien auf seinem Weg bleibt. Immerhin kam es in den vergangenen Jahren immer wieder zu gewaltsamen Ausschreitungen gegen Chinesen mit ungezählten Toten. Gleichwohl ist Sukarnos Versuch der Aufmerksamkeit und des Nachdenkens wert.
    Nach meinem Rückzug aus öffentlichen Ämtern habe ich einige Male vor internationalem, religiös gemischtem Publikum eine Vorstellung von den Werten und Geboten zu vermitteln versucht, die den drei abrahamischen Religionen gemeinsam sind. Dabei habe ich stets die Tatsache an den Anfang gestellt, daß alle drei heiligen Schriften Aufforderungen zum Frieden enthalten. Im Koran wird gesagt: Wenn die Ungläubigen Euch nicht behelligen und Euch nicht bekämpfen und wenn sie Euch Frieden anbieten, dann erlaubt Gott Euch nicht, gegen sie zu kämpfen. Im Matthäus-Evangelium sagt Jesus: Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen. Im Psalm 34 des Alten Testaments heißt es: Laß ab vom Bösen und tu Gutes; suche Frieden und folge ihm nach.
    Ich weiß zwar, daß man aus den heiligen Büchern auch durchaus gegenteilige Maximen herauslesen kann. Aber niemand wird leugnen, daß alle drei heiligen Bücher Frieden fordern – Shalom auf hebräisch oder Salam auf arabisch. Es ist eine Tragödie, daß die Rabbiner, die Priester und Pastoren, die Mullahs und Ayatollahs uns Laien die Kenntnis solcher Gemeinsamkeiten weitestgehend vorenthalten. Im Gegenteil, sie bringen uns gern bei, die anderen Religionen abzulehnen und abfällig über sie zu denken. Wer ernsthaft Frieden zwischen den Religionen will, der sollte religiöse Toleranz und Respekt predigen. Ob die Zuhörer in einer Synagoge, in einer Kirche oder einer Moschee versammelt sind, in einer Schule oder einer Universität oder ob sie zu Hause vor dem Fernsehgerät sitzen: Sie müssen begreifen, daß die Menschen, die einer anderen Religion anhängen, ähnlich gläubig sind wie sie selbst; sie sind Gott so nah und so fern wie sie selbst. Auch wenn ihre Gebete, ihre Traditionen, Gebräuche und Sitten sich von den

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