Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Ausser Dienst - Eine Bilanz

Titel: Ausser Dienst - Eine Bilanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
Vom Netzwerk:
unsrigen noch so stark unterscheiden, haben sie Anspruch auf den gleichen Respekt, den wir für uns selbst wünschen. Ich jedenfalls bin davon überzeugt, daß, über die drei abrahamischen Religionen hinaus, auch der Hinduismus, der Buddhismus oder der Shintoismus des gleichen Respekts und der gleichen Toleranz bedürfen.
    Zugleich weiß ich auch, daß vor zweieinhalbtausend Jahren zwei der grundlegenden Denker der Menschheit keiner Religion bedurften: Sokrates und Konfuzius. Beide haben keine Lehrbücher hinterlassen. Nach allem, was wir von ihren Schülern wissen, hat Sokrates seine Philosophie, hat Konfuzius seine Ethik allein auf die Argumente der Vernunft gegründet. Sie haben keine Religion gestiftet, auch keine Religion umgestaltet, erneuert oder reformiert, ihre Lehre hatte kein religiöses Bekenntnis zur Grundlage; nur aus Gründen der Opportunität haben sie gelegentlich ein Lippenbekenntnis abgelegt. Gleichwohl sind sie bis auf den heutigen Tag Leuchttürme für die Menschheit geblieben. Ohne Sokrates kein Platon, kein Aristoteles – vielleicht auch kein Immanuel Kant. Ohne Konfuzius und ohne den Konfuzianismus ist die in der Weltgeschichte einmalig lange Lebensdauer der chinesischen Kultur und des Reiches der Mitte schwer vorstellbar. Ein Doktor der Philosophie mag diese Sätze für unzulässige Simplifikationen halten. Mir kommt es hier lediglich darauf an, deutlich zu machen, daß herausragende Erkenntnisse und wissenschaftliche Leistungen, daß ethische und politische Lehren nicht an eine Religion gebunden sein müssen. Es reicht aus, wenn der einzelne sich seiner Vernunft verpflichtet weiß.
    Unter den zeitgenössischen Denkern, die überzeugt davon sind, daß es tatsächlich einen großen, den Weltreligionen gemeinsamen Bestand an ethischen Grundsätzen und Lehren gibt, ragt Hans Küng hervor, dem ich viele Male begegnet bin. Dieser katholische Priester hat, gemeinsam mit Gleichgesinnten aus anderen Weltreligionen, in zäher ökumenischer Arbeit den allen Religionen gemeinsamen moralischen Grundkanon herausgefiltert und aufgeschrieben. Das Ziel, das Küng mit großem persönlichen Einsatz ins öffentliche Bewußtsein zu heben sucht, ist ein allen gemeinsamer Wertekanon, den er »Weltethos« nennt. Es mag sein, daß dieses Wort sehr anspruchsvoll erscheint, aber das ganze Projekt ist zwangsläufig sehr anspruchsvoll. Es verdient jede Unterstützung. Denn wenn die Muslime erfahren, daß der Koran in großer Zahl die gleichen Gebote erhält wie der Tanach und die Prophetien der Juden oder das Neue Testament der Christen; wenn die Christen erfahren, daß die wichtigsten ihrer moralischen Lehren im Buddhismus oder im Hinduismus ähnlich gelehrt werden; wenn die Gläubigen aller Religionen begreifen, daß sie seit Jahrtausenden in ähnlicher Weise eine größere Zahl von grundlegenden Regeln und Verboten befolgen – dann kann dieses Wissen entscheidend zum gegenseitigen Verständnis beitragen. Es läuft hinaus auf die in allen Weltreligionen gelehrte goldene Regel, die Immanuel Kant in seinem Kategorischen Imperativ lediglich neu formuliert und die der deutsche Volksmund in den Merkvers verdichtet hat: »Was du nicht willst, das man dir tu, das füg’ auch keinem anderen zu.«
    Küngs ökumenisches Projekt hat mich von Anfang an begeistert. Sein verantwortungsbewußter Ansatz entspringt der gleichen Einsicht, von der seinerzeit Anwar as-Sadat ausgegangenwar. Weil Küng über die drei monotheistischen Religionen hinausgreift, darf er sehr wohl als ein universaler Denker gelten; zuletzt hat auch Papst Benedikt XVI. ihm seinen persönlichen Respekt erwiesen.
    Jeder Mensch ist von der Natur nicht nur mit Instinkten begabt, sondern die Natur hat dem Menschen auch die Fähigkeit gegeben, zu sprechen, zu denken und zu reflektieren. Zu diesen natürlichen Begabungen des Menschen gehört ebenso sein metaphysisches und religiöses Fragen und Verlangen. Weil alle menschlichen Kulturen der Erde sich unter vielerlei verschiedenen natürlichen Bedingungen verschieden entfaltet haben, ist auch die Unterschiedlichkeit ihrer Philosophien und Religionen von der Natur bedingt. Deshalb, so bin ich überzeugt, haben große wie kleine Religionen ein gleiches Recht, respektiert zu werden.
    Die Idee, daß es ein natürliches Recht gibt oder doch geben sollte, welches für alle Menschen, für alle Völker und für ihre verschiedenen Kulturen gilt, hat mich schon als junger Mann fasziniert. Damals blieb mir verborgen, was die

Weitere Kostenlose Bücher