Ausser Dienst - Eine Bilanz
Gewissen verstoßen; außerdem kann sein Gewissen sich auch irren. Wir alle haben schon einmal für kürzere oder längere Zeit mit einem »schlechten Gewissen« leben müssen. Das schlechte Gewissen folgt aus den menschlichen Schwächen.
Die Frage, was das Gewissen sei, kommt mir ähnlich vor wie die Frage nach dem Ort der Seele. Vor hundert Jahren meinte der Chirurg August Bier, er habe viele Menschen operiert, aber bei keiner Operation eine Seele entdecken können. Gleichwohl zweifelt kaum einer daran, daß wir alle eine Seele haben.Was mich bei der Herleitung des Gewissens von Gott immer wieder stört, ist die Tendenz zur Ausschließlichkeit, die wir zum Beispiel im Christentum oder im Islam antreffen: Du hast unrecht, ich aber bin erleuchtet; meine Meinungen, meine Ziele sind gottgefällig, deine sind es nicht. So schrieb Kardinal Ratzinger (noch bevor er Papst wurde): »Mit empirisch gestützter Gewißheit können wir sagen, wenn die sittliche Macht … des christlichen Glaubens plötzlich aus der Menschheit weggerissen würde, dann … bestünde höchste Gefahr für das Überleben der Menschheit.« Solche selbstgerechten religiösen »Gewißheiten« haben im Laufe der Geschichte unermeßliche Leiden verursacht. Ob Wilhelm II. sich als Monarch »von Gottes Gnaden« inszenierte oder ob George W. Bush glaubte, als religiöser Überzeugungstäter im göttlichen Auftrag zu handeln, als er einen Angriffskrieg gegen den irakischen Diktator Saddam Hussein führte: Solche Politiker glauben in religiöser christlicher Verantwortung zu stehen, aber zugleich instrumentalisieren sie die Religion zur Legitimation ihrer Politik. Gewiß gibt es dergleichen ebenso unter Muslimen und unter Juden.
Für mich selbst habe ich schon früh eine sehr einfache Schlußfolgerung gezogen: Mißtraue jedem Politiker, jedem Regierungs- oder Staatschef, der seine Religion zum Instrument seines Machtstrebens macht, und halte Abstand von allen, die eine auf das Jenseits orientierte Religion mit sehr diesseitigen politischen Interessen zu verbinden suchen. Diese Ermahnung gilt im übrigen auch für die innere Politik, sie gilt ebenso gegenüber dem Bürger, der sich zur Durchsetzung seines Vorteils auf seine Religion beruft. Von einem Politiker müssen wir Respekt und Toleranz gegenüber den Gläubigen anderer Religionen verlangen. Wer als politischer Führer dazu nicht fähig ist, stellt eine Gefahr für den Frieden dar – für den Frieden im Innern unseres Staates wie fürden Frieden nach außen.
Heute beunruhigt es mich, daß zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Gefahr eines weltweiten, religiös motivierten oder religiös verbrämten »clash of civilizations« durchaus real geworden ist. Besonders seit dem terroristischen Kolossalverbrechen des 11. September 2001 und seit dem 2003 begonnenen Krieg der USA gegen den Irak vermischen sich religiöse und ideologische Sendungsmotive mit exzessiven Herrschaftszielen. Empörung über Armut, vermischt mit Neid auf den Wohlstand anderer, läßt sich durch geschickte Massenagitation relativ leicht zur Auflehnung, zur Aggression und zur Gewaltbereitschaft steigern. Aber ähnliches gilt auch für die Gegenseite, wenn die durchaus ehrwürdigen westlichen Leitbilder Demokratie und Menschenrechte mit militärischer Gewalt ganz anders gewachsenen Gesellschaften und ihren Kulturen oktroyiert werden sollen. Manche amerikanische neo-konservative und evangelikale Publizisten und Politiker heizen Menschenmassen an – nicht anders als manche asiatische Mullahs und Ayatollahs.Von den erschütternden Aufnahmen der brennenden Türme in Manhattan bis zu den grauenhaften Videos aus dem amerikanischen Gefängnis von Abu Ghraib: Die Bilder und Berichte, welche die Fernsehanstalten und Zeitungen verbreiten, rufen Empörung hervor und führen zwangsläufig zu haßerfüllten Reaktionen. Täglich neue Bilder und Berichte aus Israel, Palästina, Libanon, Irak, Iran oder Afghanistan sorgen für neue Erregung. In dieser Situation wachsen auf allen Seiten die Chancen für Extremisten. Die abwägenden und mäßigenden Stimmen der Vernunft haben es schwer, Gehör zu finden. In einer von Hysterie befallenen, ekstatisch aufgeregten Menschenmasse bleiben Appelle an die Vernunft oder an das Gewissen des einzelnen ohne Gehör.
Seit dem Beginn des nun schon über ein halbes Jahrhundert anhaltenden Konfliktes zwischen dem Staat Israel und seinen arabischen und muslimischen Nachbarstaaten hat es auf beiden Seiten auch besonnene und
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