Ausser Dienst - Eine Bilanz
ausschließlich von Rechten des einzelnen, Pflichten kommen kaum vor. Dieser Gegensatz beschäftigt mich seit langem. Zum einen stellt der Grundrechtskatalog des deutschen Grundgesetzes eine gesunde Reaktion auf die extreme Beseitigung der Freiheit des einzelnen dar, die sowohl unter dem Nazi-Regime als auch in den östlichen Teilen Europas unter kommunistischer Herrschaft eingetreten war. Zum anderen griffen die Schöpfer des Grundgesetzes weit zurückliegende Erfahrungen der deutschen Geschichte auf. Während des Bauernkrieges hatte Martin Luther sich mit mehreren Sendschreiben in schärfster Form gegen die gequälten aufständischen Bauern gewandt; die Untertanen sollten »fromm, still und gehorsam sein« und »mit Leib und Gut der Obrigkeit dienen«. Dabei konnte Luther sich auf das bereits erwähnte Kapitel 13 des Römerbriefs im Neuen Testament berufen, wo es heißt: »Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gott über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott, wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet.«
Der Ratschlag des Apostels Paulus an die in Rom unter zahlreichen Repressalien leidende kleine frühchristliche Gemeinde ist seinerzeit gewiß sinnvoll gewesen. Ihn aber für die Dauer von beinah zweitausend Jahren als christliches Gebot zu etablieren, war ein folgenschwerer Irrtum. Was haben nicht noch im späten 19. Jahrhundert unsere Hofprediger aus Luthers Text von Römer 13 gemacht.Auch mein theologischer Kriegskamerad und ich haben uns 1941 durch Römer 13 beruhigen lassen. 1934 hat sich die evangelische Konferenz in Elberfeld-Barmen (heute Wuppertal) zur Abwehr des Überwältigungsversuchs durch den NS-Staat indirekt von Kapitel 13 des Römerbriefes losgesagt; die Barmer »Theologische Erklärung«, die stark unter dem Einfluß von Karl Barth stand, erinnerte »an die Verantwortung der Regierenden und Regierten «. Doch es war bereits zu spät, als daß eine solche Erklärung noch hätte wirksam werden können. Nach meiner Überzeugung hatte die Barmer Erklärung allerdings recht – und Paulus darf in diesem Punkt keineswegs recht behalten: Auch die Regierten sind verantwortlich!
Die deutsche Geschichte kennt keine Magna Charta wie in England, keine Bill of Rights wie in den USA, keine französische Revolution, wohl aber 1806, 1918/19 und abermals 1945 mehrere Zusammenbrüche deutscher Obrigkeitsstaaten. Vor diesem Hintergrund wird die einseitige Betonung der Rechte des einzelnen Menschen im Grundgesetz von 1949 verständlich. Daß diesen Rechten auch Pflichten gegenüberstehen, scheint im Denken vieler Mitbürger allerdings nur eine geringe Rolle zu spielen; jedenfalls vermisse ich in Gesprächen oft das Bewußtsein dafür, daß es zwischen Rechten und Ansprüchen einerseits und Pflichten und Verantwortungen andererseits ein Gleichgewicht geben muß. In unseren Schulen und Hochschulen, in der Publizistik und in der Politik wird viel von den Rechten und Ansprüchen gesprochen, die der einzelne gegen den Staat hat und haben soll, aber kaum je wird von der Verantwortung der Staatsbürger gegenüber ihrer Familie, der Firma, der Gesellschaft insgesamt, gegenüber der Nation und ihrem Staat gesprochen. Auch an die Verantwortung gegenüber unseren Nachbarnationen wird nur selten appelliert – obgleich in unseren Kirchen oft genug über Nächstenliebe gepredigt wird.
Seit über zweieinhalb Jahrtausenden tragen bedeutende Autoren alle möglichen Elemente zu einer politischen Ethik zusammen, zum Teil mit durchaus kontroversen Ergebnissen. Ich will mich hier auf jene Einsichten beschränken, die ich selbst im Laufe meines Lebens als Politiker und als politischer Publizist gewonnen habe, sowohl im eigenen Land als auch im Umgang mit unseren Nachbarn oder in der Begegnung mit weit entfernten Kulturen. Dabei ist zunächst grundsätzlich festzuhalten, daß in der deutschen Innenpolitik relativ häufig von Gott, vom Christentum, von seinen Geboten und Grundwerten die Rede war, aber kaum jemals im Gespräch mit ausländischen Politikern – Sadat war eine bedeutende Ausnahme.
Ich denke nicht, daß für den Politiker andere moralische Grundregeln gelten als für jedermann. Die gemeinsame Grundlage einer allgemeingültigen Moral vorausgesetzt, gibt es allerdings vielerlei spezielle Ausprägungen für spezifische Berufe oder Situationen. Ich denke zum Beispiel an den ehrwürdigen Hippokratischen Eid der Ärzte, an die berufliche Ethik des Richters oder an die besonderen ethischen Regeln, die vom
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