Ausser Dienst - Eine Bilanz
Rechtsgelehrten, die Theologen oder die Philosophen im einzelnen mit dem Wort Naturrecht meinen. Ich akzeptierte, daß damit offenbar verschiedene Inhalte gemeint sein konnten. Später habe ich mich näher damit befaßt und so unter anderem erfahren, daß bereits die Stoa im klassischen Altertum, die von einem natürlichen Sittengesetz ausging, den Begriff Naturrecht kannte.
Ein Jahrtausend später hat Thomas von Aquin die Bergpredigt im Sinne des Naturrechts gedeutet; die Bergpredigt entspreche der innersten Natur des Menschen. Mir hat das nicht eingeleuchtet. So steht zum Beispiel die Ermahnung der Bergpredigt, nicht für morgen vorzusorgen, sondern sich auf Gott zu verlassen, im Widerspruch zur Vernunft. Jede Familie, jeder private Haushalt, jede Wirtschaft, jede Politik muß auf Vorsorge für die unmittelbare Zukunft bestehen. Auch die Mahnung, nicht zurichten, kommt mir weltfremd vor; denn wo es Konflikte und Verbrechen gibt, da muß es auch Richter geben.
In den folgenden Jahrhunderten ist die Idee des Naturrechts allmählich in den Hintergrund getreten. Der Augsburger Religionsfriede von 1555, der den Fürsten das Recht gab, die Religion ihrer Untertanen zu bestimmen, war in meinen Augen ein schlimmer Verstoß gegen das natürliche Recht. Erst gegen Ende des Dreißigjährigen Krieges, nach der weitgehenden Zerstörung Deutschlands mit Millionen von Toten, brach sich der Gedanke eines Naturrechtes wieder Bahn. Vor dem Hintergrund der beginnenden Aufklärung, das heißt mit der Emanzipation der Philosophie und der Wissenschaften von kirchlicher Bevormundung, haben im 17. Jahrhundert große Juristen, Hugo Grotius an der Spitze, das Naturrecht mit Hilfe einer Reihe von konkreten Rechtsnormen definiert. Sie haben das Prinzip des Naturrechts rationalisiert, um die Menschen vor staatlicher und religiöser Willkür zu bewahren.
Der Westfälische Frieden 1648 hat nicht lange gehalten. Immerhin ist auf seinen Grundlagen durch vielerlei Verträge die Gesamtheit des heutigen Völkerrechts entstanden – bis hin zur Charta der Vereinten Nationen. Mit der Idee oder dem Ideal eines einzigen Naturrechts hat das heutige Völkerrecht, gegen das vielfach verstoßen wird, allerdings kaum etwas zu tun. Ich habe längst begriffen, daß Immanuel Kant recht hatte, wenn er am Schluß seiner Schrift »Zum ewigen Frieden« jeglicher Illusion und Schwärmerei abschwört. Er spricht dort von einer Aufgabe, die nur »nach und nach« gelöst werden könne, und gibt seiner Hoffnung Ausdruck, daß die zeitlichen Abstände zwischen den einzelnen Fortschritten »immer kürzer werden«.
Immerhin haben seit 1945 fast alle Nationen und ihre Staaten die an keine Religion und an keine besondere Kultur gebundene Charta der UN als allgemein geltendes Völkerrecht anerkannt. Viele religiöse Führer und Priester in manchen Staaten und Kulturen lassen jedoch ihrer Überheblichkeit gegenüber anderen Religionen freien Lauf und geben ihrer Abneigung oft sogar agitatorischen Ausdruck. Die immer dichter zusammengedrängte Menschheit hat dagegen religiöse Toleranz bitter nötig. Toleranz meint nicht bloßes Gewährenlassen oder Vernachlässigen, sondern Toleranz ist Achtung und Respekt gegenüber den Glaubensüberzeugungen des anderen, soweit auch der andere meine eigene Überzeugung anerkennt. In Deutschland ist im Laufe der letzten Generationen zwar die Bereitschaft gewachsen, die Andersgläubigen gewähren zu lassen, aber eine religiöse Toleranz aus Achtung und Respekt hat kaum zugenommen. Nicht nur für die Geistlichen und die Theologen, auch für die Politiker liegt hier eine Aufgabe. Denn besonders gegenüber dem Islam werden Toleranz und Kompromißbereitschaft morgen noch wichtiger sein, als sie es gestern schon gewesen sind.
Bausteine zu einer politischen Ethik
Es ist kaum zu übersehen, daß alle Religionen und alle heiligen Bücher ihren Gläubigen weit überwiegend Gebote und Pflichten auferlegen, ihnen aber kaum Rechte zugestehen. Auch im heutigen Völkerrecht spielen die Rechte des einzelnen nur eine geringe Rolle, die kriegsvölkerrechtlichen Genfer Konventionen sind eine rühmliche Ausnahme. Die Freiheiten und die Rechte der Person kommen in der Völkerrecht gewordenen Charta der UN nur als Zielsetzung vor, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UN ist nicht Bestandteil des verpflichtenden Völkerrechts.
Im Gegensatz zu den großen Religionen spricht unser Grundgesetz in seinem ersten Kapitel (Artikel 1 bis 19) fast
Weitere Kostenlose Bücher