Ausser Dienst - Eine Bilanz
gern einräumen, daß er sie nicht nötig hat, um gewählt zu werden.Wenn er aber den politischen Beruf ernst nimmt, muß er vieles lernen, das er bisher nur von weitem gekannt hat – und dazu zählt die den meisten nur in Umrissen bekannte neuere deutsche Geschichte. Wer von der Geschichte nichts weiß, kann seine Gegenwart nicht verstehen, wer nicht beurteilen kann, worüber er im Parlament abstimmt, kann seiner Verantwortung als Politiker nicht gerecht werden. Es ist ein Mißverständnis, wenn manche Anfänger in den Ortsvereinen glauben, eine gefestigte politische Gesinnung reiche schon für einen Berufspolitiker aus. Er muß außerdem neugierig und lernfähig sein.
In engem Zusammenhang mit der heutzutage oft zitierten »Karriereplanung« steht der Begriff »Netzwerk«, in Kreisen der Wirtschaft und Politik bisweilen auch »Vitamin B« genannt. Den Ausdruck Netzwerk hat es zu meiner Zeit noch nicht gegeben. Aber natürlich hat man vielfältige persönliche Kontakte geknüpft und sie langfristig aufrechterhalten. Wer sich gegen seine Zeitgenossen abschließt, hat es schwerer, zu abgewogenen Urteilen zu gelangen, als einer, der sich öffnet und Kontakt und Austausch sucht. Dies gilt offenkundig besonders für Politiker. Einige von ihnen haben es im Knüpfen persönlicher Netze zu wahrer Meisterschaft gebracht. Mir wollen weniger jene Netzwerke wichtig erscheinen, welche einem bestimmten Interesse oder der eigenen Karriere dienen, als vielmehr solche, die der geistigen Anregung und dem gedanklichen Austausch förderlich sind.
Um ein kontinuierliches Gespräch über Berufs- und Parteigrenzen hinweg zu ermöglichen, gibt es seit mehr als zwanzig Jahren in meiner Heimatstadt Hamburg die Freitagsgesellschaft, deren Mitglieder sich sechs oder sieben Mal im Jahr treffen, um sich durch Vorträge und Diskussionen gegenseitig zu bereichern. Wir sind einige zwanzig Frauen und Männer aus den unterschiedlichsten Berufen, einige von uns sind oder waren früher hauptberufliche Politiker, aber wir hängen – als Wähler oder als Mitglieder – unterschiedlichen politischen Parteien an. Was uns eint, sind Engagement für das öffentliche Wohl, die Salus publica , Offenheit und Toleranz. Einige Jahre nach Gründung der Freitagsgesellschaft haben Marion Dönhoff und Richard von Weizsäcker in Berlin in ähnlicher Weise die Tradition der ehrwürdigen Mittwochsgesellschaft wieder aufgenommen, die bereits von 1863 bis 1944 ihren Mitgliedern Unterrichtung und geistige Orientierung geboten hatte.
Nur selten habe ich Sitzungen der Freitagsgesellschaft und der Mittwochsgesellschaft versäumt. Sie waren – und sind immer noch – sehr attraktiv, weil sie vielfältige Anregung und Begegnungen mit interessanten Gästen bieten. Beides gilt auch für den Senat der Deutschen Nationalstiftung, der sich in ähnlicher Manier aus Menschen unterschiedlichster Provenienz zusammensetzt. Durch die Initiativen von Richard Schröder und Kurt Biedenkopf hat dieser Senat der öffentlichen Meinung unseres Landes viele Impulse gegeben, die auf die Vertiefung des Bewußtseins der Deutschen als Nation und zugleich des Bewußtseins der kulturellen, geschichtlichen und politischen Identität der europäischen Völker gerichtet sind.
Wenn ich diese drei Gremien hier besonders hervorhebe, verbinde ich damit auch die Hoffnung, daß sie als anregendes Beispiel verstanden werden. In früheren Zeiten hat es in einer Reihe deutscher Städte Lesegesellschaften gegeben, in denen aus der Literatur vorgelesen und sodann darüber diskutiert wurde. Im Zeitalter der elektronischen Medien droht das Gespräch einzutrocknen, weil viele allzu einseitig auf Fernsehen und Internet eingestellt sind und zugleich ihr Freundes- und Bekanntenkreis auf ihr berufliches Umfeld beschränkt bleibt. Manager unter sich, Arbeitgeber unter sich, Gewerkschafter unter sich, Wissenschaftler, Ärzte, Juristen und Ingenieure jeweils unter sich, Politiker derselben Partei unter sich – allzu viele Menschen neigen zu geistiger Inzucht. Damit laufen wir die doppelte Gefahr einer Verflachung unserer gesellschaftlichen Kultur und einer Aufspaltung unserer Gesellschaft in Interessengruppen.
Diese Entwicklung geht Hand in Hand mit der Verflachung unserer Lesekultur. Fachliteratur, Ratgeberliteratur aller Art, Reise- und Unterhaltungsliteratur: Damit läßt sich auf Dauer kein fruchtbringendes Gespräch über Partikularinteressen hinaus gestalten. So wie ich eine gründliche Kenntnis zumindest der
Weitere Kostenlose Bücher