Ausser Dienst - Eine Bilanz
Fraktionsvorständen oder im Präsidium der SPD, die ich über die Jahrzehnte miterlebt habe und deren Zahl wahrscheinlich in die Tausende geht, sind hingegen weniger positiv. Ich habe dort vor allem gelernt, die Grenzen dessen zu erkennen, was konsensfähig war – und mich notfalls meiner Haut zu wehren. Auch hier trafen Urteilskraft und Tatkraft zusammen, ebenso aber Geltungsbedürfnis, Ehrgeiz, widerstreitende Interessen, ideologische Vorurteile, Dogmen und Doktrinen. Allerdings wurden die gemeinsamen Grundlagen, die gemeinsamen sozialdemokratischen Werte nur selten und nur von einigen wenigen verletzt. Erich Ollenhauer und Willy Brandt, die beiden Vorsitzenden meiner Partei, die ich als Vorstandsmitglied miterlebt habe, hatten oft große Mühe, die Genossen zusammenzuhalten. Ich vermute, daß es in den anderen Parteien nicht anders war und daß es in einer politischen Partei eigentlich auch nicht viel anders zugehen kann. Ich will hier jedoch keinen Beitrag zur Soziologie oder Psychologie politischer Parteien liefern, sondern auf die Frage der Loyalität in hierarchisch strukturierten Apparaten zurückkommen.
Ein im staatlichen Amt tätiger Politiker muß sich auf die Loyalität der beamteten Hierarchie verlassen können. Weil es aber oft mein Bestreben war, wenigstens ein wenig besser informiert zu sein als ein inländischer oder ausländischer Gesprächsoder Verhandlungspartner, habe ich mir spezielle Sachkenntnis oft auch aus niedrigeren Stufen der Hierarchie verschafft. Zu meiner Zeit mußten im Kanzleramt die an mich gerichteten Vorlagen erkennen lassen, wer sie ursprünglich geschrieben hatte (Herrn BK vorzulegen, abgezeichnet vom Chef BK, vom Abteilungsleiter und vom Unterabteilungsleiter). Manch einer der Referenten mußte damit rechnen, per Telefon von mir zur Rücksprache gebeten zu werden. Ein solches Vorgehen konnte auf den Zwischenebenen erhebliche Unruhe auslösen. Aber wenn ich zum Beispiel über die Umstände einer angekündigten Fusion zweier Banken genauer Bescheid wissen oder wenn ich hören wollte, was die amerikanischen Generale bei der NATO in Brüssel über den Versuch dachten, einige amerikanische Geiseln im Iran mit militärischen Mitteln zu befreien, dann war es zweckmäßig, direkt einen zuständigen Bundesbankdirektor oder einen Deutschen NATO-General zu befragen. Denn auf dem langen Weg nach oben können wichtige Details oder nützliche Hinweise verlorengehen.
Ohne wohlgeordnete Hierarchie können sich in einem Ministerium genau wie in einer großen Firma und in jedweder großen Organisation chaotische Verhältnisse entwickeln. Nach meiner Erfahrung braucht der Chef beides: Er braucht sowohl – wegen ihrer routinierten Leistungsfähigkeit – die Hierarchie innerhalb seines Hauses als auch – wegen der Abneigung fast jeder Bürokratie gegen Innovation – die unmittelbare Berührung mit der »Arbeitsebene«. Der Chef muß auch wissen, was in seinem Hause und in seinem Bereich vorgeht und woher der Wind weht.
Gut anderthalb Jahrzehnte nach meinem Ausscheiden aus dem Amt habe ich ein kleines Lehrbeispiel für eine in der Vorbereitung ungenügend abgesicherte Entscheidung miterlebt. Es ging um die Neubesetzung der Spitzenposition (»Managing Director«) im Weltwährungsfonds (IMF). Die Bundesregierung hatte sich die gerechtfertigte Meinung gebildet, jetzt sei endlich auch einmal ein Deutscher an der Reihe, und offiziell einen Spitzenmann aus dem Berliner Finanzministerium für das Amt nominiert. Die deutsche Bürokratie hatte aber versäumt, sich vorher der Zustimmung der USA zu vergewissern, die im IMF die bei weitem meisten Stimmrechte besitzen. Die amerikanische Administration kannte den deutschen Kandidaten und lehnte ihn ab – das Prestige des Bundeskanzlers drohte beschädigt zu werden. Man kam zu mir und bat um einen Ratschlag. Sie müssen einen Kandidaten präsentieren, dessen internationales Ansehen so groß ist, daß Washington ihn nicht ablehnen kann, habe ich geantwortet. Wen ich denn als einen solchen ansehen würde, hat man mich prompt gefragt; darauf schlug ich Hans Tietmeyer vor, der als Präsident der Bundesbank weltweit hoch angesehen war – aber Tietmeyer lehnte ab. Als nächsten nannte ich Horst Köhler, ehedem Staatssekretär unter dem Finanzminister Theo Waigel, mittlerweile schon seit Jahren international angesehener Chef der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung in London. Köhler ist es dann am Ende auch geworden. Der Fehler zu Beginn
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