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Ausser Dienst - Eine Bilanz

Titel: Ausser Dienst - Eine Bilanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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wichtigsten historischen Entwicklungen für unerläß lich halte, so ist in meinen Augen auch die Kenntnis wichtiger Werke der Weltliteratur eine Voraussetzung dafür, Zusammenhänge besser zu verstehen. Meine eigene literarische Bildung ist sehr lückenhaft gewesen, als ich mit achtzehn Jahren Soldat werden mußte. Als ich mit gut sechsundzwanzig Jahren die Uniform wieder ausziehen konnte, hatte ich zwar Kriegs- und Lebenserfahrung dazugewonnen, aber weder Bildung noch Berufsausbildung. Deshalb begann Ende 1945 mit der sehr verspäteten Aufnahme des Studiums für mich eine Periode des konzentrierten Lesens; ich hatte vieles nachzuholen.
    In meiner Schulzeit hatte ich einige Bücher über deutsche Geschichte gelesen, vornehmlich aber die großen Romanschriftsteller, Deutsche, Russen, Skandinavier, Franzosen und Engländer. Die Palette umfaßte alles, was die »Öffentliche Bücherhalle« am Hamburger Hasselbrook-Bahnhof hergab, sie reichte von Thomas Mann über Iwan Turgenjew und Fjodor Dostojewski bis zu Victor Hugo und Émile Zola. Politische Literatur kannte ich hingegen praktisch nicht, bis auf zwei Ausnahmen aus dem Bücherschrank meines Vaters: ein Buch des Franzosen Gustave le Bon und ein Buch des Spaniers José Ortega y Gasset. Durch sie war mir in Umrissen erstmals der Begriff der Masse, ihrer politischen und psychologischen Verführbarkeiten deutlich geworden. Ansonsten war da noch Erich Maria Remarque gewesen, dessen ungewöhnlicher Realismus mich vor dem Krieg schaudern ließ – und Oswald Spengler. Sein »Untergang des Abendlandes« war für mich zwar viel zu umfangreich und vor allem zu schwierig, weil er vielerlei Kenntnisse voraussetzte, die ich nicht hatte. Aber Spenglers quasi biologische Vorstellung von Wachsen, Blütezeit, Ernte und Niedergang einer Kultur hat mir eingeleuchtet. Während des Krieges sind die sogenannten Selbstbetrachtungen des römischen Kaisers Marcus Aurelius mein Brevier gewesen. Er hat mich bei all meiner Angst immer wieder zu innerer Gelassenheit und zur Pflichterfüllung ermahnt.
    Nach dem Krieg wurde ich dank Rowohlts Rotations-Romanen mit den großen amerikanischen Autoren bekannt, die während der Nazi-Zeit nicht zugänglich gewesen waren. Zur Abrundung meines Studiums vertiefte ich mich jetzt aber vor allem in die Klassiker der politischen und ökonomischen Literatur. Ich lernte von Rousseau und Montesquieu, von Adam Smith und David Ricardo, von William Henry Beveridge und John Maynard Keynes. Zum erstenmal fand ich Maßstäbe zur Beurteilung staatlicher, rechtlicher, ökonomischer und moralischer Fragen. Allerdings musste ich im Studium auch einige überflüssige Dinge lernen, denn die meisten Nationalökonomen meiner Universität lebten weit in der Vergangenheit und in obsoleten Theorien. Immerhin habe ich begriffen, warum der Weimarer Demokratieversuch gescheitert war – und daß die Nazi-Herrschaft eine Regierung von Verbrechern war.
    Ich war dreißig Jahre alt, als ich zum erstenmal im nunmehr erlernten ökonomischen Beruf Geld verdienen konnte.Vier Jahre später wurde ich zum erstenmal in den Bundestag gewählt. Für Lektüre blieb da nur noch wenig Zeit, das meiste von dem, was mir zum Politiker an Bildung fehlte, mußte ich »on the job« lernen. Im Laufe von drei Jahrzehnten habe ich dann meine Maßstäbe und meine Urteile zwar sorgfältiger ausfeilen, verbessern und auch revidieren können, aber wirklich Zeit zum Lesen fand ich erst wieder, nachdem ich aus allen Ämtern ausgeschieden war. Ich habe versucht, die Bildungslücken, die mir besonders bei meinen Reisen deutlich wurden, einigermaßen systematisch auszufüllen; auch in dieser Hinsicht empfand ich die letzten fünfundzwanzig Jahre außer Dienst als Bereicherung.
    Zurück zu den sogenannten Netzwerken. Über eine längere Reihe von Jahren hat der frühere US-Präsident Gerald Ford jeweils im Sommer ein Treffen amerikanischer Spitzenmanager in Vail im Bundesstaat Colorado veranstaltet. Regelmäßig lud er seine alten Partner und Freunde Jim Callaghan, Valéry Giscard d’Estaing und mich dazu. Man lernte die unternehmerische Seite Amerikas verstehen, man steuerte selbst einen kleinen Vortrag bei. Vor allem saß man einen Abend zu viert zusammen – aber man redete weniger von alten Zeiten als vielmehr über Gegenwart und Zukunft. Als die NATO Ende 1983 einen neuen Generalsekretär brauchte, weil der Holländer Josef Luns in den Ruhestand ging, fanden wir vier den englischen Lord Peter Carrington

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