Ausser Dienst - Eine Bilanz
ehemaligen Regierungschefs uns demonstrativ selbst in China ein, flogen im Frühjahr 1993 nach Shanghai und Beijing und besuchten die kommunistische Staatsführung unter Jiang Zemin. Die Besuchsdelegation war hochkarätig zusammengesetzt: Der Japaner Takeo Fukuda, der Brite James Callaghan, der Australier Malcolm Fraser, Valéry Giscard d’ Estaing aus Frankreich, Lee Kuan Yew aus Singapur, Olusegun Obasanjo aus Nigeria, Pierre Trudeau aus Kanada gehörten dazu; außerdem waren als besondere Gäste Flora Lewis von der »New York Times«, Henry Kissinger und Weltbankpräsident Robert McNamara beteiligt. Unser demonstrativer Besuch hat sich bald positiv ausgewirkt, die Gefahr eines kalten Krieges ging vorüber.
Als damaliger Vorsitzender des InterAction Councils war ich besonders engagiert bei der Ausarbeitung des 1997 verabschiedeten »Entwurfs einer Allgemeinen Erklärung der Menschenpflichten«. Wir haben in diesem Papier, dem Ergebnis zehnjähriger gemeinsamer Arbeit, der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen von 1948 einen Katalog der Verantwortlichkeiten in neunzehn Artikeln an die Seite gestellt. Dabei sind wir von der allen großen Religionen gemeinsamen »goldenen Regel« ausgegangen, nach der jeder den anderen so behandeln soll, wie er von diesem behandelt zu werden wünscht. Artikel 15 will ich hier gern zitieren, weil er zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch wichtiger geworden ist, als er es am Ende des vorigen Jahrhunderts bereits war: »Während Religionsfreiheit garantiert sein muß, haben die Repräsentanten der Religionen die besondere Pflicht, Äußerungen von Vorurteilen und diskriminierende Handlungen gegenüber Andersgläubigen zu vermeiden. Sie sollen Haß, Fanatismus oder Glaubenskriege weder anstiften noch legitimieren, vielmehr sollen sie Toleranz und gegenseitige Achtung unter allen Menschen fördern.« (Der vollständige Text ist abgedruckt im Anhang meines Buches »Auf der Suche nach einer öffentlichen Moral«.)
Von Jimmy Carter bis Michail Gorbatschow, von Shimon Peres (Israel) bis Salim al-Hoss (Libanon), von Lee Kuan Yew (Singapur) bis zu Kenneth Kaunda (Sambia) haben sich viele Staatsmänner aus allen fünf Kontinenten an der Ausarbeitung dieses Textes beteiligt. Wir haben ihn dem Generalsekretär der Vereinten Nationen zugeleitet, und er hat ihn auf die Tagesordnung der Generalversammlung gesetzt. Obwohl das öffentliche Echo bisher recht verhalten war, habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben, mit diesem Dokument der internationalen Ethik und Toleranz eines Tages doch noch das Interesse der amtierenden Regierungen zu gewinnen.
Was den notwendigen Austausch zwischen den Konfessionen angeht, habe ich im Jahr 1996 einige wichtige Erkenntnisse auf einer Konferenz gewonnen, zu der der Großscheich der Al Azhar-Universität, Mohamed S. Tantawi, unter der Ägide des ägyptischen Präsidenten Mubarak eingeladen hatte. Das Thema war »Islam im Dialog«. Fünfzig oder sechzig muslimische Delegationen nahmen daran teil, dazu einige wenige Vertreter anderer Religionen. Ich habe vielen der dort gehaltenen Vorträge und Diskussionsbeiträge kaum folgen können, weil mir die vorausgesetzten Kenntnisse fehlten. Ich begriff jedoch deutlich, daß es den allermeisten Teilnehmern – teils Priester, teils Politiker – nicht um Dialog mit anderen Religionen oder allgemein mit dem Westen ging, sondern in erster Linie um Probleme innerhalb des Islam. Da der Islam nicht über ein gemeinsames Zentrum verfügt, anders als noch vor tausend Jahren in Gestalt der Kalifen, ganz anders als die katholische Kirche in Gestalt des Papstes und des Vatikans, wußten die Mullahs, Imams und Ayatollahs über die Grenzen ihres eigenen Landes hinaus offenbar relativ wenig voneinander. Sie waren aber offensichtlich wißbegierig und neugierig aufeinander nach Kairo gekommen. Die große Kluft des Nichtwissens über andere Religionen war gleichfalls spürbar. Immerhin hat Tantawi mich später gebeten, Papst Johannes Paul II. eine Einladung zum Gespräch mit ihm nahezulegen; es reichte aber leider nicht einmal die Hilfe von Kardinal König, den Vatikan dazu zu überreden. So ist mir abermals die Notwendigkeit interreligiöser Toleranz demonstriert worden.
Solange Lebensalter und Gesundheit es zuließen, habe ich viele außerdienstliche Einladungen zu Besuchen und zu Konferenzen angenommen. Unvergeßlich ist mir die erste internationale Konferenz, die ich – unmittelbar nach dem Krieg, noch vor der Währungsreform –
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