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Ausser Dienst - Eine Bilanz

Titel: Ausser Dienst - Eine Bilanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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dieser Geschichte, so möchte ich vermuten, lag bei der Spitzenbürokratie im Kanzleramt; ihr scheint die nationale und die internationale Vernetzung gefehlt zu haben. Hätte man sich im Vorwege bei der Bundesbank, bei unserer Botschaft in Washington, bei unserem IMF-Direktor (unterhalb der Vorstandsebene) und bei der amerikanischen Treasury erkundigt, hätte man gewiß nicht das Ansehen des Kanzlers leichtfertig der Beschädigung ausgesetzt.
    Ein Gegenbeispiel, einen Fall übertriebener Beteiligung anderer Instanzen, will ich auch erwähnen. Zur Vorbereitung eines ZEIT-Artikels über den in der EU für den Euro geltenden Stabilitätspakt wollte ich mich 2005 gern mit einem Referatsleiter des Finanzministeriums unterhalten und hatte mein Büro gebeten, mit ihm einen Termin zu vereinbaren. Der Ministerialrat wollte sich aber erst mit seinem Abteilungsleiter abstimmen. Dieser wiederum meinte, zwar sei er der Leiter der Grundsatzabteilung, aber das Thema habe doch auch mit Europa zu tun, also sollte zusätzlich auch die Leiterin der Europa-Abteilung dabeisein. Am Ende kamen sie zu viert, da auch das Bundeskanzleramt involviert war. So ähnlich hätten jene pflichtbewußten Beamten sich wahrscheinlich auch verhalten, wenn nicht ein längst pensionierter Politiker, sondern der amtierende Minister um Information ersucht hätte. Ähnlich arbeitet die Hierarchie der meisten Großorganisationen. Durch Beteiligung allzu vieler Instanzen – seien sie vertikal einander übergeordnet oder auf gleicher Ebene nebeneinander tätig – kann ein Neutrum herauskommen, ähnlich dem Ergebnis jener sprichwörtlichen Kommission, die ein Pferd entwerfen sollte und die schließlich ein geflügeltes Tier mit fünf Beinen ablieferte. Für den Mann an der Spitze, den Minister, den Konzernvorstand oder den Verbandspräsidenten, kommt es deshalb oft darauf an, auch den Fachmann vor Ort zu befragen, ehe er sich entscheidet.
    Als Herausgeber der ZEIT habe ich kaum jemals etwas zu entscheiden, sondern ich habe zu raten, zu empfehlen, zu loben und zu kritisieren. Ich schreibe in der Regel per Hausmitteilung an den jeweiligen Verfasser, Autor oder Redakteur, gebe aber eine Kopie an den Chefredakteur; so wird die Unmittelbarkeit des Kontaktes gewahrt, aber die Hierarchie nicht beschädigt. Quasi als Fußnote will ich hinzufügen: Erst im Laufe des Lebens habe ich gelernt, daß man seine Mitarbeiter bisweilen auch loben muß.

Netzwerke
    Vor vielen Jahren – ich hatte mein Büro noch in Bonn – besuchte mich einmal ein junger Abgeordneter und stellte mir die Frage: »Wie habt ihr eigentlich zu eurer Zeit eure politische Karriere geplant?« Ich war von dieser Frage verblüfft und auch befremdet. Mir war nie in den Sinn gekommen, daß ein Politiker seine Lebenslaufbahn planen könnte. Ich selbst hatte mir eine politische Karriere jedenfalls nie vorgestellt und war eher zufällig in die Politik geraten. Es käme für einen neu ins Parlament Gewählten zunächst darauf an – antwortete ich, vielleicht ein wenig schroff–, wenigstens auf einem der vielen fachpolitischen Gebiete etwas zu leisten und damit zum Gelingen des Ganzen beizutragen. Später ist mir diese Frage noch mehrfach begegnet, aber sie will mir immer noch nicht sonderlich sympathisch vorkommen.
    Wer in die Politik gehen will, soll einen Beruf gelernt und ausgeübt haben, in den er jederzeit zurückkehren kann, denn nur so kann er sich seine Unabhängigkeit bewahren. Er soll die ersten zwanzig Artikel des Grundgesetzes verinnerlicht haben und das übrige in seinen Grundzügen kennen. Er soll die deutsche Geschichte mindestens seit der Französischen Revolution kennen, darüber hinaus auch die Geschichte unserer wichtigsten Nachbarn und außerdem die Geschichte der europäischen Integration. Schließlich aber muß er spätestens nach seiner Wahl ins Parlament sich auf mindestens einem Fachgebiet so weit einarbeiten, daß er sich in diesem Fach auf sein eigenes Urteil verlassen kann.
    Man kann den hier skizzierten Kanon dessen, was ein Berufspolitiker an Voraussetzungen mitzubringen hat, gewiß noch erweitern und auch variieren. An der Forderung nach Kenntnissen sowohl der deutschen als auch der Geschichte Europas würde ich auf jeden Fall festhalten. Dabei ist mir bewußt, daß es für Leute, die ausArbeiter- oder aus Büroberufen kommen – oder für jemanden, der Elektrotechnik oder Zahnmedizin studiert hat–, sehr schwer ist, sich solide historische Kenntnisse zu erwerben. Auch will ich

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