Außer sich: Roman (German Edition)
finde ich.
Und während ich in sein Gesicht sah, hob sich das linke Lid ein bisschen, ein paar Millimeter.
Luft anhalten. Herz anhalten.
Dann nichts mehr.
Die Dämmerung kam, der Morgen, die Schwester. Er wurde gewaschen. Der Urinbeutel wurde gewechselt. Ich ging aufs Klo.
Erst gegen Mittag.
Da schlug er die Augen auf. Beide aufs Mal. Das eine etwas weiter als das andere. Er ist aufgewacht!
Bastian!
Nein.
Aufwachen konnte man das ja kaum nennen. Die Lider klappten auf. Mehr nicht. Seine Augen starrten leer geradeaus. Zum Fenster. Hinaus. Zum Fenster hinaus. In die Wipfel mehrerer Bäume. Die Wipfel krümmten sich unter einem frühherbstlichen Wind. Darüber schoben sich weiße Wolken nach Osten. Die Wolken hatten wenig Struktur, nur an den Rändern waren sie etwas dunkler. Er blinzelte nicht. Sebastian? Hallo, guten Morgen! Wo warst du, wo warst du so lange? Komm, Zeit, aufzustehen! Keine Reaktion. Ich wartete. Er versuchte, Luft zu holen. Er versuchte zu schlucken, mehrmals. Ich ging hinaus auf den Flur, zum Schwesternzimmer, er ist aufgewacht, sagte ich.
Doktor Manke kam und löste den Schlauch vom Tracheostoma. Verschloss das Loch mit einem Luftfilter, damit keine Fliegen und Flusen in die Lunge flögen.
Sein Herz schlägt, er atmet, aber er kennt mich nicht, sagte ich. Und er macht nichts mit seinen Armen und Beinen. Er versucht es nicht einmal. Er will das Tracheostoma nicht rausziehen. Auch sonst scheint er nichts zu wollen. Er wehrt sich nicht gegen die Schläuche und Kabel. Alles liegt brach. Das dauert, sagte Manke, geben Sie ihm Zeit. Was ist das, fragte ich. Ist das jetzt ein Wachkoma? Oder Locked-in? Ich hatte das Bedürfnis, Sebastians Zustand einen Namen zu geben. Nur ein Wort, geeignet, dem Unbekannten, dem Ausgeliefertsein zu trotzen. Ein Wort wie ein Dach über dem Kopf, Mauern ringsum, jedes Zimmer, jeder Winkel mir auch blind irgendwann vertraut. Manke sah mich an. Nach einer Pause: Ich versuche mal, es Ihnen zu erklären. Als sei ich nicht ganz bei Trost. Als sähe ich nicht, was doch ganz offensichtlich ist. Ein Mensch mit Locked-in-Syndrom, sagte er, nehme seine Umgebung wahr, habe Empfindungen, könne sich aber nicht mitteilen. Er sei eben in sich selbst eingesperrt, wie der Name ja schon sage. Das wäre zumindest eine erträgliche Vorstellung, sagte ich. Nein, sagte Manke und sah mich erstaunt an, ganz und gar nicht. Stellen Sie sich vor, alles ist da, Erinnerung und Gefühle. Sie sehen die Sonne, sie spüren Hände auf ihrer Haut, sie hören Menschen an ihrem Bett sich unterhalten. Sie verstehen jedes Wort. Sie verstehen, dass niemand glaubt, sie würden noch etwas verstehen. Sie liegen lebendig in einem offenen Sarg. Sie versuchen, sich bemerkbar zu machen, sie rufen nein, halt, ich bin nicht tot! Sie winken und zappeln, aber kein Muskel in ihrem Körper gehorcht ihnen noch, keines ihrer Gefühle dringt nach außen. Irgendwann wird der Deckel auf den Sarg gelegt, zugeschraubt, der Sarg in die Erde gesenkt, das Grab zugeschaufelt. Die Menschen gehen weg. So. Wäre es da nicht besser, den harzigen Geruch des Tannenholzes, aus dem der Sarg gezimmert ist, nicht riechen zu müssen, die feuchte Kühle der aufgebrochenen Erde? Sich nicht vorstellen zu können, wie es sein wird, wenn das Grab endgültig geschlossen wird, nicht zu hören, wie die Erde auf den Deckel poltert? Nicht dabei zu sein, wenn alle Geräusche weniger werden, nicht zu spüren, wie die Luft knapper wird? Er schüttelte den Kopf. Ich hatte Manke bisher müde gesehen, zerstreut, aber nie wütend. Jetzt war er wütend. Jetzt sah er mich an, schutzlos, direkt. Die Wut zündelte in seinen Augen. Er versuchte sie zu kontrollieren. Bei Ihrem Mann hingegen, fuhr er fort, handelt es sich vermutlich vorerst um ein Appallisches Syndrom. Pallium, Mantel. Ohne Mantel, das Gehirn ist ohne Mantel, nackt, sozusagen, ohne Großhirnrinde. Er kennt sich selbst nicht mehr, aber er weiß nicht, dass er sich selbst nicht mehr kennt. Was, wann und wie viel sich noch erholt, wird die Zeit zeigen. Will sagen. Manke setzte sich. Wir kennen keinen Namen für das, was im Kopf Ihres Mannes vor sich geht. Und wir wissen nicht, welche Funktionen in Zukunft eventuell von anderen Hirnregionen übernommen werden.
Was sagt er? Wie? Er hat gar nichts gesagt? Aber er hat gedacht? Kann ich jetzt schon Gedanken lesen? In Augen, normalerweise, kann man ja das Denken sehen, das Erkennen, das Begreifen. Man kann die wechselnden Bilder sehen. Wie im Kino.
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