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Außer sich: Roman (German Edition)

Außer sich: Roman (German Edition)

Titel: Außer sich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Fricker
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immer ein bisschen zu langsam sein, immer ein paar Minuten zu spät kommen. Jetzt saßen sie hier in der Sonne bei einem Bierchen und einer Zigarette. Weil das Krankenhaus der einzige Ort ist, an dem sie sich ausruhen dürfen. An dem sie verpflichtet sind, nichts zu tun. So viel wie möglich zu schlafen. Verpflichtet, gesund zu werden, damit sie in den Alltag zurückkehren können. Denkbar, dass der eine oder andere keinen anderen Ausweg wusste. Herzkasper, verschleppte Lungenentzündung. Oder Vorfahrt missachtet, in Gedanken beispielsweise bei der Klasse 5b. Vor der Klassenzimmertür, die ihr wie ein Höllenschlund vorkommt seit Jahren. Dem sie sich täglich von Neuem nähern, in den sie eintreten muss. Jahrelang hat sie jedem erzählt, es mache ihr großen Spaß zu unterrichten, das sei nicht nur ihr Beruf, nein, es sei ihre Berufung. Sie hat ja keine Wahl. Doch, hat sie. Sie steht an der Einmündung, sie sieht den Audi auf der Hauptstraße kommen. Sie weiß genau, es reicht nicht. Jetzt! Kupplung, Gas. Augen zu. Sie hat die Augen zugemacht. Nie mehr Klasse 5b, hat sie noch gedacht, Klasse 5b adieu. Leckt mich doch am Arsch. Der Audi fuhr hundert, wenn nicht sogar noch schneller. Der Audifahrer hat ausgesagt, der Kia sei einfach rausgefahren, er selbst sei höchstens zehn Meter vor der Einmündung gewesen, allerhöchstens, auf einer Landstraße, auf der hundert erlaubt sei, da sei sie einfach rausgefahren. Auf einmal. Hinter ihm keiner, vor ihm keiner. Als habe sie auf ihn gewartet. Er begreife das nicht. Zugegeben, er sei vielleicht etwa hundertzwanzig gefahren, schnurgerade Strecke, kaum Verkehr. Kein Nebel, kein Regen, beste Verhältnisse.
    Sie ist noch mal davongekommen. Sie weiß, sie muss jetzt etwas ändern in ihrem Leben, aber sie kann nicht. Sie wird zurück in die Klasse 5b gehen.
    In kurzen Abständen landeten Rettungshubschrauber auf dem Dach des Hauptgebäudes.
    Gegen Abend rief die Sekretärin von Sebastians Chef an. Ob ich seine Sachen abholen könne. Dass Sebastians Arbeitsplatz ja frei geworden war, hatte ich ganz vergessen. Keiner aus seinem Büro hatte ihn besucht bisher. Gleich am nächsten Morgen fuhr ich vorbei. Sie saßen alle fleißig an ihren Macs. Sebastians Schreibtisch war schon wieder besetzt. Der Chef schüttelte mir die Hand und sagte, es tue ihm wirklich leid, was passiert sei. Sebastians Sachen seien drüben im Aufenthaltsraum. In einer Ecke, in einer Plastiktüte von Dussmann, fand ich seine Habseligkeiten. Wenigstens, dachte ich, haben sie keine Alditüte genommen. Auf dem Weg zum Ausgang musste ich noch einmal durchs Büro. Der eine oder andere blickte kurz hoch. Hatte Sebastian je hier gearbeitet?
    Ich nahm die Tüte mit in die Klinik, breitete den Inhalt auf der Bettdecke aus. Schau, Bastian, deine Sachen aus dem Büro. Eine Dose Book Darts, die ich ihm einmal geschenkt hatte. Ich drehte sie in der Hand.
Hold that thought
stand in Schreibschrift darauf. Die Dose war fast leer. Der Füllfederhalter, Patronen, Bleistifte, ein Paar schwarze Socken, ein ziemlich neues Skizzenbuch und eines aus Studentenzeiten. Ich schlug es auf. Die Seiten waren gefüllt, überfüllt mit Zeichnungen, Fotoschnipseln. Manches durchgestrichen. Häuserzeile, dazwischen eine Lücke, eine Bauchance, daneben Idee eines Mehrfamilienhauses, wie ein Storyboard erst, auf der nächsten Seite die Details. Dann Sommerhaus, der Wettbewerb, ich erinnerte mich: einseitig geschweifter Baukörper, Horizontallattung. Er hatte dann einen anderen Entwurf abgegeben, obwohl mir der hier besser gefallen hatte. Kurze Bemerkungen standen neben den Zeichnungen,
Bötzowstraße kompatibel, Funkie = Gartenzierpflanze (Liliengewächs)!!!
Was hast du damit gemeint?
    »Baukunst ist immer der räumliche Ausdruck geistiger Entscheidungen«, Mies van der Rohe
, dreimal unterstrichen. Skizzen von Szenen, die nichts mit Architektur zu tun hatten. Ein Paar auf der Treppe vor dem Pergamonmuseum, eine Augenstudie, eine Handstudie, mit wenigen energischen Strichen umrissen.
    Warum hast du eigentlich aufgehört zu zeichnen? Das fällt mir jetzt auf, ich habe dich schon lange nicht mehr zeichnen sehen.
    Vorne, auf der zweiten Seite, stand
Katja, 19.30 Uhr Babylon, Freitag
in Druckbuchstaben, dick eingerahmt, Ausrufezeichen dahinter. Auf eine Datumsangabe hatte er verzichtet. Ich wusste auch so, wann das gewesen war.
    Im neuen Skizzenbuch war kaum etwas übrig von diesem wilden Durcheinander. Einige Zahlen, Berechnungen. Zwei, drei Skizzen,

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