Außer sich: Roman (German Edition)
Lichtbilder, ein Widerschein des Denkens, könnte man sagen. Ich kann das nicht richtig beschreiben, was eigentlich der Unterschied ist zwischen leeren und vollen Augen. Normalerweise fragt man sich das nicht. Man fragt sich das erst, wenn man einmal, einmal leere Augen gesehen hat. Hunde, zum Beispiel, oder Katzen haben immer übervolle Augen. Oft ist darin ein großes Wunschbild zu sehen. Hunger. Angst, Aggression.
Das hier sind Augen, die sich an nichts entzünden, nicht an den roten Früchten der Hagebutte, die vorm Fenster wächst, nicht am Blick eines anderen Menschen. Augen, die sich nicht an die Kindheit erinnern, wenn sie Schneeflocken vom Himmel fallen sehen. Schicht um Schicht, Tautage, die oberste Schicht Schnee verharscht bei neuerlichen Minusgraden. Der Spaziergänger tritt auf die weiße Fläche, glaubt, festen Boden unter den Füßen zu haben, sackt durch. Findet sich auf einer tieferen Schicht wieder. Kämpft sich weiter. Nein, hier sind alle Schichten geschmolzen. Nichts mehr da, nur kalte, nackte Erde, auf der auch im kommenden Frühjahr vielleicht nichts mehr wachsen wird.
Sebastians Augen waren nicht die Augen von jemandem, der nur nicht sagen kann, was er sieht und hört und denkt. Auf dem EEG sei wenig Hirnaktivität nachzuweisen, im Moment, hatte Manke mir erklärt. Sollte ich wirklich beruhigt sein? Dankbar, dass er all das nicht erleben muss?
Die Schwester legte mir die Hand auf die Schulter. Die Hand war ein schweres Gewicht. Für Ja einmal blinzeln, für Nein zweimal. Versuchen Sie, ihm das beizubringen, sagte sie, trotzdem. Wir wollen nichts verpassen, nichts unversucht lassen. Geben Sie die Hoffnung nicht auf, glauben Sie an Wunder, versprechen Sie mir das! Sie ging hinaus und ließ uns mit mir allein. Ich setzte mich und sagte: Bastian. Hörst du mich? Mein Gott, was für eine Frage! Hörst du mich! Da liegt ein Mensch, die Augen offen, und ich frage ihn: Hörst du mich? Vielleicht liegt er da und denkt, ja klar höre ich dich, was für eine blöde Frage. Siehst du nicht, dass ich dich höre? Vielleicht sagt er sogar Ja, laut und deutlich, aber kein Muskel zuckt, kein Laut verlässt seinen Mund.
Ich begann zu reden. Ich begann zu plappern, zu tratschen, zu jubeln, zu lachen. Dabei war mir nach Weinen zumute, nach Heulen und Jammern. Nur positive Reize, hatte Manke gesagt, keinen Stress fürs Gehirn. Lustig sein, liebevoll sein, singen, vorlesen, Musik vorspielen, Witze erzählen.
Ja. Ja also.
Queren zwei Bergsteiger einen Gletscher, fällt der vordere in eine …
Bringt Herr Meier sein Auto in die Werkstatt. Schlimm?, fragt er den Mechaniker nach einer Weile …
Haha.
Lustiglustig sein.
Ich zwackte mich selbst, ich lachte. Ich schlug mir auf die Schenkel. Ich veranstaltete ein Spektakel, ein Fest für niemanden. Nein, im Ernst.
Irgendwo mussten doch die Reize Spuren hinterlassen. Theoretisch konnten Nervenenden wieder zusammenwachsen. Man muss die Nerven trainieren, reizen, wie einen Muskel. Kein Fall ist mit einem anderen vergleichbar. Jaja. Ich blieb dabei, ich hoffte, ich hoffte auf ein Wunder. Und es half. Es half! Ja! Irgendwann bewegte er die Augäpfel. Die Pupillen wanderten von oben nach unten und von rechts nach links. Ein Kreuz. Aber ohne zu zwinkern, zu blinzeln. Man hatte Angst, es sammle sich Staub auf dem Auge, dem Glaskörper, dieser gallertigen Kugel, die nur zu einem Auge wurde, indem sie etwas
sah
. Und das Gehirn das Gesehene zu verarbeiten in der Lage war. Ich blinzelte und hoffte, er würde es mir nachmachen. Wie man den Mund öffnet, kaut und schluckt, ohne selbst etwas zu essen, wenn man ein Kind füttert.
Er blinzelte.
Er hat geblinzelt. Aufatmen, durchatmen.
Dann blinzelt er nicht mehr.
Dann die Gerüche, diese menschlichen Gerüche, die kaum zu ertragen sind. Ich bilde mir Gerüche ein, die gar nicht zu riechen sind, normalerweise. Aus dem Inneren des Körpers. In einem Krankenhaus, in dem alles klinisch rein und aseptisch ist. Stellt man sich vor, was für eine Sauerei das ist, all die Bakterien und Viren und Abfallprodukte. Wie das brodelt und gärt und stinkt. In einem. Zusammen- und von der Wahrnehmung ferngehalten nur durch einen Hautsack, eine Hauthülle.
Der Mund stand ständig offen. Mit dem Finger streichelte ich seine Lippen. Ich massierte sanft sein Zahnfleisch. Ich nahm Zahnpasta und strich sie ihm auf die Zunge. Die Zunge wand und wellte sich. Er schmatzte. Sambal Oelek, asiatische Schärfe. Die Zunge zuckte, als habe sie sich
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