Außer sich: Roman (German Edition)
du? Mein Heimatland gibts nicht mehr. Wir sind übernommen worden, okkupiert. Kannst du dir auch nur ansatzweise vorstellen, was das bedeutet? Hör auf. Er hörte nicht auf. Was ist denn das für eine Freiheit jetzt? Jetzt darf man alles sagen, ha, dass ich nicht lache! Ein falsches Wort auf der Arbeit und du fliegst. Nennst du das Freiheit?
Plötzlich sprang er auf. Als habe er soeben eine wichtige Entscheidung getroffen. Komm, sagte er, ich will dir was zeigen! Wir fuhren durch die winterliche Stadt, zur Stadt hinaus, die B101 hinunter Richtung Luckenwalde. Kurz hinter Großbeeren fuhr er auf einer schnurgeraden Strecke rechts ran. Den ganzen Weg hatten wir kein Wort gesprochen. Aussteigen. Wir gingen ein Stück die Straße entlang, vor einem der Bäume blieb Sebastian stehen. Hier, sagte er leise, hier war es. Ich ahnte es schon. Der Baum hatte die tiefe Kerbe mit einer Geschwulst aus Borke und Rinde gefüllt, überfüllt. Schnee hatte sich in den Rinnen verfangen. Was ist passiert, fragte ich. Sebastian schwieg lange. Kein anderes Auto, sagte er dann, war an dem Unfall beteiligt. Kein Glatteis, keine regennasse Fahrbahn, kein Nebel. Er hatte auch keinen Herzinfarkt oder sonst etwas. Der Wagen war in Ordnung. Wie, sagte ich, dann war es gar kein Unfall? Mit der Hand strich er über die Baumgeschwulst, klaubte ein Stück der blättrigen Rinde ab, zerbröselte sie zwischen den Fingern. Ich versteh es nicht, sagte er, noch immer nicht. Mein Vater war bis zuletzt überzeugt vom Sozialismus. Er wollte nicht im Kapitalismus leben. Mutter, sagte Sebastian, hätte aber schon leben wollen, sie stellte sich leicht auf neue Umstände ein.
Wir saßen im Auto am Straßenrand. Es hatte wieder zu schneien begonnen, Schichten Schnee deckten uns nach und nach zu. Er lehnte sich an mich, ich legte meine Arme um ihn. Es sei nun genug Zeit vergangen, sagten die Ärzte nach drei Wochen, man könne es jetzt versuchen. Meine Fingerkuppen glitten über seine Augenbrauen, über die Lider, die Nase entlang, streichelten die Lippen. Sie hatten das Nimotop über Tage ausgeschlichen, jeden Moment konnte er aufwachen. Ich beugte mich über ihn, küsste seine Stirn, das Ohr. Hallo, flüsterte ich, ist da vielleicht jemand? Die Lider vibrierten ein bisschen. Die Schlagader an der Schläfe pochte stärker. Bastian, aufwachen … komm, wach auf, bitte. Der Mund öffnete sich etwas. Der Puls wurde schneller, dann wieder langsamer.
Ich nahm seine Hand. Wartete. Sah auf seine geschlossenen Augen. In sein Gesicht. Nichts verpassen. Wenn die Wasser wieder über ihm zusammenschlügen, und ich hätte sein kurzes Auftauchen nicht gesehen, weil ich den Horizont betrachtet hatte oder den Wellenschlag. Ich fror, aber ich getraute mich nicht, hinüberzugehen und die Jacke von der Stuhllehne zu holen.
Warten.
Wenn er aufwacht, sehen wir, was noch funktioniert. Hatte Manke gesagt.
Wenn.
Seine Hände. Schlafend. Die rechte ein bisschen wärmer als die linke. Röcheln, Brodeln im Tracheostoma. Lange Zeit wieder nur das hohle Ein- und Ausströmen von Luft. Der Urinbeutel, seitlich an der Bettstatt hängend, füllte sich. Rinnsale gelber Flüssigkeit mäanderten entlang der Falten, die das weiche Plastik warf.
Zum Beispiel könnte sich zeigen, dass wider Erwarten alle Sorge umsonst gewesen ist. Er würde aufwachen und als Erstes sich selbst extubieren wollen. Was ist das denn. Dieser Stutzen, wozu, dieser Fremdkörper. Er würde vielleicht nicht wissen, was passiert ist, aber wissen, wer er ist. Sich selbst noch kennen.
Manke hatte gemeint: Wenn er aufwacht, werden wir sehen, ob die Basalfunktionen noch da sind: Herzschlag, Atmung.
Ist das alles? Nun seien Sie mal nicht unbescheiden. Das wäre schon etwas, das wäre schon viel.
Das Röcheln wird stärker. Psst.
Wieder schwächer. Weiter warten.
Kaum konnte ich die Augen noch offen halten. Aber ich bleibe, ich halte die Stellung. Einnicken mit dem Gesicht auf der Bettdecke. Sie riecht nach, ich weiß nicht, nach Sebastian. Er riecht nicht mehr so wie früher. Anders. Alles anders. Was war das. Meine Hand (habe ich mir das eingebildet?) wird gedrückt. Fast gar nicht wahrnehmbar, wie ein Muskelzucken nur. Ja! Er spürt mich, er riecht mich, er weiß, ich bin da. Ich lege mir seine Hand auf den Mund. Bastian, Bastian, wach auf. Ich bins, Katja, ich bin da, bei dir.
Nichts. Wieder nichts.
Die Nachttischlampe brennt.
In ihrem Schein sieht er nicht mehr ganz so tot aus. Seine Wangen sind etwas röter,
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