Außer sich: Roman (German Edition)
erschrocken.
Er begann, die linke Hand zu bewegen. Die Fausthand öffnete sich. Ich legte meine Hand auf seine offene Hand und drückte sie. Und mir schien, er drücke zurück. Es war ein prächtiger Tag, warm und hell. Man ist ja schon mit so wenig zufrieden. Glück. Ein Händedruck. Nein! Eine Reaktion. Darauf kam es an. Auf
Reaktionen
. Ich machte das Fenster auf. Weit auf.
Es klopfte. Ja, rief ich, ja?
Die Türe öffnete sich und herein trat Erwin. Die Hose am rechten Bein noch von der Fahrradklammer zusammengehalten. Das Hemd spannte sich über dem Bauch. Schweißflecke unter den Achseln. Krawatte. Das Jackett über dem Arm. Ein breites Grinsen im Gesicht.
Erwin!
Ich dachte, ich komm mal vorbei.
Er hat mir eben die Hand gedrückt, sagte ich.
Super, sagte Erwin.
Während er näher ans Bett trat, wich das Grinsen einem Ausdruck der Verwunderung. Der Irritation. Setz dich, sagte ich. Du kannst normal sprechen. Sprich einfach mit ihm, wie sonst. Wie früher. Versteht er mich denn? Wo blickt er hin, fragte er. Ich zuckte die Schultern. Nach innen vielleicht. Man weiß es nicht. Erwin nahm sich die Fahrradklammer vom Bein. Setzte sich. Er drehte die Klammer in der Hand hin und her, drückte sie zusammen. Hör auf, sagte ich, das macht ihn nervös. Erwin wusste sonst in jeder Lebenslage, was zu tun oder zu sagen war. Jetzt wusste er es nicht. Mit offenem Mund starrte er Sebastian an. Als habe er nur eine kleine Unpässlichkeit erwartet, eine flüchtige Indisposition, und sei nun erschüttert über das Ausmaß der Störung. Katja, ich.
Er hat mir die Hand gedrückt, sagte ich.
Aber.
Das ist schon viel.
Erwin sah mich an.
Er schwieg. Ich schwieg.
Er lockerte die Krawatte.
Ich schloss das Fenster.
Nicht, dass du dich erkältest.
Was ist mit dem Projekt, fragte ich, die Lofts, macht das jetzt Rolando?
Erwin nickte, schluckte.
Er wandte den Blick endlich von Sebastian ab, mir zu. Eigentlich, sagte er, wollte ich mit dir darüber reden, wann du wieder arbeiten kommst. Wie das weitergehen soll.
Ich kann hier jedenfalls nicht weg, sagte ich. Wenn er in die Reha verlegt wird, werde ich mit ihm dort, am neuen Ort, erst mal wohnen.
Erwin vermied jetzt jeden Blick zum Bett.
Aber er kennt dich doch gar nicht mehr.
Das denkt man. Das stimmt aber nicht. Er hört meine Stimme, er riecht mich und fühlt mich. Er weiß, dass ich da bin.
Meinst du?
Eben hat er mir die Hand gedrückt!
Manchmal blinzelt er.
Am nächsten Tag kamen die Krämpfe. Es begann mit einem Händedruck. Er drückte meine Hand, er presste sie, der Krampf wanderte den Arm hinauf, beide Augen verdrehten sich nach links oben, der Kopf bog sich nach hinten, sein Körper wurde zu einer scharf gespannten Saite. Sekundenlang. Blutiger Schaum vor dem Mund.
In den folgenden Tagen kamen die Krämpfe kurz hintereinander. Ganze Krampfserien. Epilepsie. Ich getraute mich kaum noch, ihn anzufassen. Berührung, Musik, Sprache. Ein einzelnes Wort war schon eine Überforderung für sein Gehirn. Sie probierten Medikamente aus. Die Medikamente hatten Nebenwirkungen. Man trieb den Teufel mit dem Beelzebub aus. Am Ende gab es keine Wahl.
Keine Wahl haben. Ich ging hinaus. Ins Café, holte mir einen Cappuccino. Setzte mich draußen hin, in den Schatten, zündete mir eine Zigarette an.
Bis auf Weiteres war ich krankgeschrieben.
Ich konnte mir nicht vorstellen, woanders zu sein als hier. Müde betrachtete ich den modernen Eingangskomplex der Klinik. Müde regte sich ein Widerspruch zur lateralen Fensterfront. Müde wandte ich den Blick ab. Die Zeit, Stunden, Minuten, angefüllt mit Sorge, mit Hoffnung, mit Enttäuschung, mit Angst. Bis zum Rand mit Krankheit gefüllte Zeit. Wenn es ein absehbares Ende der Krankheit gäbe. Besserung. Heilung. Dächte ich an anderes oder schliefe, so bildete ich mir ein, verriete ich Sebastian. Empfände ich Freude, entglitte er mir, gäbe ich ihn auf.
An Nebentischen, ja, saßen Menschen. Im richtigen Leben waren sie Professoren, Versicherungsvertreter, Hauptschullehrerinnen. Die Sonne lacht, die Sonne brennt. Die denken sich wohl, Sonne genießen, solange sie noch scheint! Ja Herrgott, auch nach dem Winter kommt wieder ein Sommer. Auch morgen ist wieder ein Tag. So ist es doch. Augen zu. Augen auf. Warum sich nicht einmal eine Auszeit gönnen? Mal wieder in die Werkstatt. Fachleute ranlassen. Unterboden gesäubert, neue Reifen, Ölwechsel. Vergessen die dreispurig verstopften Straßen, die Autobahnen nach Westen und Norden,
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