Außer sich: Roman (German Edition)
die Ärzte? Weiß nicht. Es hat Komplikationen gegeben. Wie es jetzt aussieht, weiß ich nicht. Sie schüttelte den Kopf. Sie begann von Herrn Professor Doktor May zu erzählen, du erinnerst dich, von schräg gegenüber, der letztes Jahr einen Schlaganfall hatte und der nach nur drei Monaten wieder fast der Alte war. Fast, die Lippe hing noch ein bisschen, aber sonst. Mutter hätte sich als Schwiegersohn jemand anderen gewünscht als Sebastian. Jemand, der mehr darstellte. Mehr Format hatte. Immer schon hatte sie Angst gehabt vor Formverlust, vor Verwahrlosung. Diese Angst ließ sich ihrer Meinung nach am besten bekämpfen mit Titeln, mit Renommee. Mit gesellschaftlich anerkannten und vor allem respektierten Formen des Daseins. Kleine, persönliche Erfolge zählten nicht. Schritte auf einem Weg. Diesen alten Ledermantel (den ich so sehr geliebt hatte an ihm) mit den räudigen Pelzen an Kragen und Ärmeln hatte sie ihm nie verziehen. Solch abscheuliche Kleidung wurde, wenn überhaupt, nur durch Erfolg zur Extravaganz. Will er nicht endlich ein eigenes Büro aufmachen? Mutter, das ist nicht so einfach. Wenn es so einfach wäre. Sie akzeptierte Sebastian eigentlich nur mir zuliebe. Sebastian hingegen hatte Mutter immer gemocht. Er war fasziniert von ihrem Gesicht, von der Kurzhaarfrisur, mittlerweile schneeweiß, über den Ohren und der Stirn straff nach hinten gekämmt. Von diesem Winkel der Unsachlichkeit, der sich in ihrem festen Glauben an alternativen Krimskrams manifestierte. Ansichten, die (früher zumindest) eben nicht gesellschaftlich anerkannt waren. Eine Nische der Unordnung, hatte er immer gesagt, ich weiß nicht warum, aber ich mag das.
Mutter stand auf und ging zum Fenster. Wie soll das jetzt weitergehen? Was fragst du mich? Warum bist du denn so gereizt? Sie sah mich an. Entschuldige. Wir entschuldigten uns gegenseitig. Du weißt, sagte sie, du kannst jederzeit zu mir kommen, er ist ja fast tot. Ich sah sie an. Mutter! Wie kannst du so etwas sagen. Er ist nicht fast tot, er kämpft, siehst du nicht, wie er kämpft, wie wir kämpfen.
Ich nahm sie nicht mehr mit in die Klinik. Wer wusste schon, was sich in seinem Hirn abspielte, wenn er diese nur unzureichend kaschierte Ablehnung spürte, die fehlende Zuversicht. Er hatte ihr ja nichts mehr entgegenzusetzen. Mutter ging derweil in die Stadt und abends trafen wir uns in der Wohnung.
Am dritten Tag reiste sie ab. Steif verabschiedeten wir uns voneinander. Sie stieg in den Zug. Ich wartete draußen auf dem Bahnsteig. Wir versuchten, aneinander vorbeizusehen. Eine lange Minute noch. Endlich setzte sich der Zug in Bewegung. Ich winkte, sie winkte. Ich war erleichtert, ich ging wieder in die Klinik.
Sebastians Eltern waren kurz nach der Wende bei einem Unfall ums Leben gekommen. Hatte ich gedacht. Bis zu jenem Tag vor etwa fünf Jahren.
Es war ein heller Wintertag, pulvriger Neuschnee lag auf den Straßen, auf allen Simsen, auf den Bäumen. Sebastian hatte schlechte Laune. Er hatte eine Projektleitung nicht bekommen, obschon er den Kunden akquiriert hatte. Das war unfair, zugegeben. Yolanda hatte die Projektleitung bekommen, wie fast immer in letzter Zeit. Er tigerte in der Wohnung umher. Die schieben sich die Aufträge immer gegenseitig zu. Da hast du keine Chance. Ich hör auf dort, sagte er, ich such mir was Neues. Bastian! Ich wollte ihn trösten. Nimms sportlich, sagte ich. Das war schon zu viel. Sebastian schnellte herum. Du hast ja keine Ahnung, zischte er. Das hat nichts mit meiner Arbeit zu tun, das ist, weil ich aus dem Osten komme. Jetzt hör aber auf! Sein Vater war Architekt in der DDR gewesen. Er hatte Kollegen denunziert. Ich glaube, Sebastian schämte sich einerseits für seinen Vater, und andererseits glaubte er, ihn verteidigen zu müssen. Er saß auf zwei Stühlen gleichzeitig und bisweilen fiel er dazwischen. Man braucht nur mit meinem Namen zu kommen, sagte er, da bist du gleich raus. Und du, du weißt ja gar nichts und du kapierst auch nichts. Du wirst es nie kapieren. Ich wurde langsam wütend. Jetzt mach mal halblang, sagte ich, so was spielt doch heute keine Rolle mehr. Das hat eher was mit Yolanda zu tun und ihrer höchst zeitgemäßen Karrieregeilheit. Wenn etwas mit früher zu tun hat, ist es deine Unfähigkeit, dich gegen so eine durchzusetzen (wie gesagt, ich war wütend). Ich hatte das Gefühl, mit jedem Wort, das ich sagte, auf eine Mine zu treten. Die DDR gibts nicht mehr, sagte ich aus Trotz. Ja genau, ganz genau! Verstehst
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