Aussicht auf Sternschnuppen
keinster Weise ernst genommen zu werden. Zum Glück stürzte sich neben mir eine Braut, dicht gefolgt von ihrem Bräutigam und dem Rest der Hochzeitsgesellschaft, vor einen Sportwagen, der hupend zum Stehen kam. Die Braut trug ein schauderhaftes, an mehreren Stellen gerafftes Kleid mit einem goldglänzenden Bolero darüber und hatte eine Zigarette in der Hand. Mit ihrer freien Hand zeigte sie dem Fahrer des Wagens ihren Mittelfinger. Mein Aufenthalt in der Stadt der Liebe hätte nicht romantischer beginnen können!
Aber dank der resoluten Braut konnte ich zumindest unbeschadet die Straße passieren und wurde gleich darauf von zwei Teenagern versöhnt, die an einer Bushaltestelle standen und es trotz ihres wilden Geknutsches schafften, mit den Zahnspangen nicht aneinander hängenzubleiben.
Ich blickte mich um. Hier in der Nähe musste sich also das Hotel befinden, in dem Giuseppe abgestiegen war. Wenn er mir denn die Wahrheit gesagt hatte. Aber warum hätte er in diesem Punkt lügen sollen? Er konnte schließlich nicht wissen, dass ich mich an seine Fersen gehängt hatte und ihm nach Verona gefolgt war.
Langsam steuerte ich auf einen großen Brunnen zu, der in der Mitte des Platzes, eingesäumt von Holzbuden, fröhlich vor sich hinsprudelte, um meine Lage zu orten. Rechts von mir bildeten die aneinandergereihten Markisen der Restaurants ein breites grünes Band um den Platz, zu meiner Linken wurde er von einem langgestreckten gelben Gebäude mit Säulen begrenzt. Hotelschilder konnte ich auf den ersten Blick nicht ausmachen.
Was mir aber auffiel, war, dass die Louis-Vuitton-Tasche zu der modernen italienischen Frau zu gehören schien, wie Lederhose und Haferlschuhe zum traditionsbewussten Bayer. An fast jedem Arm baumelte das braune Modell mit dem selbst für mich als Mode-Muffel erkenntlichen Logo.
Langsam ging ich auf eine kleine Bank zu, die im Schatten eines ausladenden Nadelbaums stand. Die letzten Stunden hatte ich so unter Strom gestanden, dass ich mir noch gar keinen richtigen Plan zurechtlegen konnte und normalerweise hatte ich für alles einen Plan. Aber das würde ich jetzt nachholen! Ich holte einen zerknitterten Notizblock und einen Kugelschreiber aus meiner Tasche und begann zu schreiben:
1. im Hotel Milano anrufen und dort Erkundigungen über Giuseppe einholen
Dieser Punkt war einfach zu erledigen. Sobald ich das Hotel gefunden hatte, würde ich hineingehen und nachfragen, ob ein gewisser Giuseppe Ferro dort abgestiegen sei und wenn ja, am besten gleich in Erfahrung bringen, ob er sich für die Nacht ein Einzel- oder ein Doppelzimmer genommen hatte.
2. nach einer Toilette fragen und versuchen, mich einigermaßen passabel herzurichten
Dieser Punkt war schon etwas schwerer zu realisieren, denn ein Blick in meine Handtasche zeigte mir, dass sich darin neben meinem Portemonnaie und dem Handy momentan lediglich eine Tüte Pfefferminzbonbons befand. Ich würde mich also mit einem Spritzer Wasser ins Gesicht und frischem Atem begnügen müssen.
3. an Giuseppes Zimmertür klopfen
Ab hier musste ich flexibel sein, da vieles davon abhing, ob sich Giuseppe in seinem Zimmer befand und, wenn ja, ob er sich allein oder in Begleitung darin aufhielt. Ich musste diesen Punkt also aufsplitten.
3.a Giuseppe ist da und allein
Ich werde Überraschung rufen, mich in seine Arme stürzen und seine Reaktion abwarten. Wenn er sehr begeistert über meinen Besuch wirkt, werde ich die ganze SMS-Angelegenheit als dummes Missverständnis abtun und auf sich beruhen lassen.
Dieser Punkt gefiel mir und ich umkreiste ihn zweimal mit meinem Kugelschreiber.
3.b Giuseppe ist da und nicht allein auf seinem Zimmer
Ich werde Giuseppe meine Handtasche über den Kopf ziehen, in Tränen ausbrechen, wegrennen, seine Gespielin erwürgen … Ich wusste es nicht. Diesen Punkt konnte ich nicht planen. Wenn er wirklich eintraf, musste ich intuitiv handeln.
3.c Giuseppe ist nicht da
Ich werde mich vor dem Hotel auf die Lauer legen und warten, bis er wiederkommt. Wenn er erscheint, tritt je nach Situation der Punkt 3.a oder der Punkt 3.b in Kraft.
Jetzt würde ich auf jeden Fall erst einmal den Punkt 1 erledigen und im Hotel Milano anrufen.
Ich merkte, wie mein Bauch sich zusammenkrampfte, ungefähr das gleiche Gefühl, das mich früher immer kurz vor der Verkündigung eines Prüfungsergebnisses beschlichen hatte. Bei den Prüfungen selbst war ich meist die Ruhe in Person gewesen, aber kurz bevor ich die Note erfuhr, begannen mich
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