Aussicht auf Sternschnuppen
die Nerven. „Man könnte meinen, dass deine Eltern an allem schuld sind, was in deinem Leben falsch gelaufen ist. Aber das ist doch Unsinn! Sie haben sich vielleicht nicht immer vorbildlich um dich gekümmert und sie haben dir vielleicht auch keine berufliche Alternativen neben der Schauspielerei aufgezeigt, aber sie haben dich bestimmt nicht dazu gezwungen, diesen Beruf auszuüben. Du hättest studieren können, du hättest eine Ausbildung machen können. Du bist nur den einfacheren Weg gegangen.“
Nils sah mich überrascht an. „Nein, das stimmt nicht. Wie hätten meine Eltern denn vor ihren Freunden und vor der Presse dagestanden, wenn ich Bäcker oder Metzger geworden wäre? Und ein Studium kostet Geld.“
„Deine Eltern sind dir doch angeblich ach so egal“, erwiderte ich ungeduldig. „Und was das Studium angeht: Es gibt Millionen Studenten, die sich ihr Studium über Nebenjobs finanzieren. Wir versuchen uns immer einzureden, dass andere für unser Unglück verantwortlich sind, aber seien wir mal ehrlich, meistens sind wir selbst daran schuld.“
„Redest du aus eigener Erfahrung?“ Nils verzog spöttisch den Mund.
Ich überlegte einen Augenblick und wollte diese Frage schon verneinen, doch dann fiel mir Olli ein. Vor nicht weniger als zwei Stunden hatte ich ihm noch die Schuld an meinem Gefängnisaufenthalt, ja, überhaupt an meinem verkorksten Leben gegeben. Doch darüber mochte ich nicht reden.
„Ich muss mal wohin.“ Schnell stand ich auf.
Heijeijei! Ich hätte nicht so viel trinken sollen. Nur langsam kam ich auf die Füße. Auf einmal erschien mir der kühle Wind nicht mehr gar so nachteilig. Die Tatsache, dass ich steif gefroren wie ein Fischstäbchen war, verschaffte mir zumindest eine gewisse Standfestigkeit.
Unbeholfen setzte ich einen Fuß vor den anderen und hoffte, dass Nils die leichten Schlangenlinien nicht bemerkte, mit denen ich mich einer Gruppe von Bäumen näherte. Ich hatte schon im Laufe unseres Gesprächs gemerkt, dass sich meine Zunge zunehmend wie eine Pellkartoffel anfühlte, aber jetzt, in Bewegung, schien der Alkoholanteil in meinem Blut mit jedem Schritt zuzunehmen. Über dem schlanken Stamm einer Pinie, an die ich mich aufatmend sinken ließ, lag bereits ein verzerrter Weichzeichenfilter.
Meinen Reißverschluss bekam ich leicht geöffnet. Doch als ich mich in eine Hockstellung sinken lassen wollte, plumpste ich wie eine reife Frucht nach unten. Auch der zweite und dritte Versuch, diese Position zu halten, misslang. Schließlich zog ich mich erneut an der Pinie hoch und ließ mich mit meinem Rücken an ihrem Stamm nach unten sinken. Es klappte! Zum Glück! Nur zwei Sekunden später hätte ich in die Hose gemacht. Zärtliche Gefühle für den Baum stiegen in mir auf. Auf umgekehrtem Weg kam ich auch relativ problemlos wieder in eine Art Senkrechte und schaffte es auch, meine Jeans zu schließen. Doch als ich die rechte Hand vorsichtig von der Baumrinde löste und einen Schritt nach vorne setzt, kippte ich ohne Vorwarnung um und landete unsanft mit dem Gesicht im Dreck. Benommen setzte ich mich auf. Hatte ich wirklich so viel getrunken? Was sollte ich jetzt tun? Ich wollte auf keinen Fall auf allen Vieren zu Nils zurückkehren. Doch was war die Alternative?
„Nils!“, rief ich schwach und merkte, dass meine Zunge nun fast gar nicht mehr formbar war. „Du muscht mal kommen.“
„Was ist denn?“ Seine Stimme drang wie durch einen Schalldämpfer an mich heran.
„Ko-homm!“
„Warum sitzt du auf dem Boden?“, frage er, als er neben mir stand.
„Isch kann nisch aufschtehn. Su viel getrunkn.“ Ich kicherte. Die Situation war zu dämlich. Außerdem war ich unendlich müde. „Isch bleib’ hier liegen. Hol misch morgen früh wieder ab!“
Langsam ließ ich mich nach hinten sinken, streckte die Beine lang aus und schloss die Augen. Der Boden unter mir begann, unheilvoll zu beben. Schnell öffnete ich sie wieder.
„Du kannst nicht hier liegen bleiben. Steh auf! Ich helfe dir!“ Nils kniete sich neben mich und griff nach meinem Arm.
„Nein, isch bleib’ liegen.“ Ruckartig entwand ich mich aus seinem Griff. Mir wurde übel. Besser keine zu schnellen Bewegungen machen!
„Nein, du bleibst nicht hier liegen.“ Entschlossen schob Nils seine Hände in meine Achselhöhlen und hob mich in die Höhe. Wie ein nasser Waschlappen hing ich in seinem Arm. Vor meinen Augen tanzten die Bäume auf und nieder. Versuchshalber schloss ich sie erneut. Doch die Bäume
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