Aussicht auf Sternschnuppen
darauf stand eine schlanke Frau von etwa fünfzig Jahren auf dem Balkon und sah uns fragend an. Sie trug einen Bademantel und hatte ein Handtuch um ihren Kopf geschlungen.
„Scusi. Mi ho fatto la doccia. Che cosa vuole dal mio padre?”, rief sie herunter.
„Veniamo dalla Germania. Lydia Sing è una vecchia amica del suo padre.” Nils schob Lydia nach vorne. „Sie ist eine alte Freundin ihres Vaters.
„Lydia Sing“, wiederholte die Frau nachdenklich, doch dann erhellte ein Strahlen ihr Gesicht und sie warf Nils mehrere italienische Sätze zu.
„Sie kann sich an Sie erinnern. Lorenzo hat ihr erzählt, dass er im zweiten Weltkrieg zwei Jahre bei Ihnen gearbeitet hat“, übersetzte er.
Der Türöffner wurde aktiviert und kurz darauf tauchte Lorenzos Tochter auf. Sie hatte sich hastig ein geblümtes Kleid übergestreift und machte eine einladende Geste ins Innere des Hauses.
„Wollen Sie auf Lorenzo warten?“, fragte Nils Lydia. „Seine Tochter meint, er sei gleich wieder zurück.“
Doch diese zuckte zusammen. „Nein.“ Sie klammerte sich an meinem Arm fest. „Vielleicht können wir Lorenzo ein Stück entgegengehen.“
Nils wandte sich wieder an Signora Bartole und diese wies in Richtung des Hafens. „Lorenzo geht jeden Morgen und jeden Abend am Pier spazieren“, erklärte er und wir machten uns auf den Weg.
Auf dem Weg zum Hafen wurde ich ganz unruhig und konnte es kaum erwarten, endlich das Meer zu sehen. Ich musste mich richtiggehend zusammennehmen, um nicht neben Nils und Lydia her zu hüpfen, so wie ich es als Kind immer an der Hand meines Vaters getan hatte.
„Woran wollen Sie Lorenzo eigentlich erkennen? Er wird sich doch mit Sicherheit in den vergangenen Jahren verändert haben?“, fragte ich Lydia.
„Ich weiß es nicht.“ Sie hob unsicher die Hände. „Der Spaziergang war eine Ausrede. Worüber hätte ich mit Lorenzos Tochter reden sollen. Ich verstehe kaum ein Wort Italienisch.“
Als wir am Pier ankamen, war die Sonne bereits ein wenig tiefer gesunken und tauchte den vorher so milchig aussehenden Himmel in ein blassgelbes Licht. Rechts von uns hatten Straßenhändler ihre Waren ausgelegt und boten Sonnenbrillen und allerlei Modeschmuck an. Links von uns wiegten sich einige kleinere Segelboote sacht im Wind. Die Schiffsleinen, die gegen die Maste geschlagen wurden, verursachten dabei ein seltsames Trommelkonzert, das von dunkel-hohl bis zu metallisch-scheppernd reichte. Männer standen in kleinen Grüppchen herum, angelten oder unterhielten sich. Einheimische Frauen sah ich kaum auf dem Pier.
Auf einer Aussichtsplattform blieben Lydia, Nils und ich stehen und ließen unseren Blick über die Versiliaküste schweifen. Es war windig und das blaugraue Meer wurde immer wieder von weißen Schaumkronen durchbrochen. Der schmale Sandstrand verlor sich ebenso wie das Häuserband entlang der Promenade und die Berge des Apuanischen Gebirges zur Horizontlinie hinaus im Nichts. Immer wieder schipperten Fischkutter mit hochgezogenen Fangnetzen an uns vorbei.
Auf einmal blieb mein Blick an einem gelben Gebäude hängen, auf dessen Türmchen Fahnen im Wind tanzten und das sich durch seine Pracht und Größe von den anderen Häusern der Strandpromenade abhob.
„Was für ein wunderschönes Haus!“, rief ich entzückt. „Es sieht aus wie ein kleines Schlösschen.“
„Es ist bestimmt ein Hotel“, entgegnete Nils nüchtern.
„Es muss toll sein, dort zu wohnen. Nur etwa zwanzig Meter vom Strand entfernt.“
Nils zuckte wenig beeindruckt mit den Schultern.
„Ja, ich weiß, für dich ist das nichts Besonderes. Meine Eltern konnten sich solch schicke Hotels aber nicht leisten. Wir waren schließlich zu sechst und sind deshalb meistens in Ferienhäuser gefahren.“
„Ich hätte lieber mit meinen Eltern und Geschwistern in einem Ferienhaus gewohnt, als mit meinen Eltern und meinem Kindermädchen zusammen in einem Hotel“, erwiderte Nils.
Ich verdrehte die Augen und wich einem Roller aus, auf dem ein älterer Mann und ein Hund saßen. Als er dicht neben uns anhielt, sprang das kleine rotblonde Tier herunter, ließ sich kurz von mir streicheln und verrichtete dann sein Geschäft neben einer Laterne. Der Mann pfiff leise durch die Zähne und der Hund sprang wieder auf das Fußbrett der Vespa.
Lydia sprach kein einziges Wort. Nachdenklich schaute sie ein paar Möwen zu, die sich um einen Brotkrumen balgten. Ihre Finger drehten ein Stofftaschentuch hin und her.
Nach einer Weile
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