Aussicht auf Sternschnuppen
schlenderten wir weiter und erreichten bald das Ende des Piers, eine große, runde Fläche, auf der ein Miniatur-Leuchtturm stand. Mein Freund, der rotblonde Hund, war schon vor uns angekommen und stand nun mit wedelndem Schwanz auf der Mauer und hielt seine Nase in den Wind.
Lydia hielt abrupt an. Ihre Augen weiteten sich.
„Da ist er.“ Sie zeigte nach vorn auf einen kleinen älteren Herrn mit Hut und Spazierstock, der nur wenige Meter entfernt von uns auf einer Bank saß und aufs Meer hinaus sah.
„Sind Sie sich sicher?“, fragte ich.
„Ja. Das ist Lorenzo.“ Ihre Hand krampfte sich um meinen Arm.
„Aber wie können Sie das wissen? Sie sehen ihn doch nur von hinten“, gab Nils zu bedenken.
Doch Lydia hörte ihm nicht zu. Ihr Gesicht war bleich und angespannt. „Ich werde hingehen.“ Sie nahm Nils den Griff ihres Koffers aus der Hand.
„Sollen wir hier warten, bis Sie sich ganz sicher sind?“, fragte ich.
„Nein. Ich bin mir sicher.“ Sie stellte sich vor mich und legte ihre Hände auf meine Oberarme. Sie zitterten leicht. „Es ist Zeit, sich zu verabschieden.“
Ich hob zweifelnd eine Augenbraue.
„Ja. Ich bin angekommen.“ Lydia sah mich liebevoll an. „Machen Sie es gut. Sie werden Ihren Weg gehen. Das weiß ich“, sagte sie und nahm mich in den Arm.
Ich lächelte und erwiderte ihre Umarmung. Fast war ich dabei ein wenig traurig.
Anschließend wandte sie sich Nils zu und bot ihm ihre Hand an. Er griff sie und küsste sie dann auf die Wange. Lydia tätschelte ihm noch kurz den Arm, dann drehte sie sich um. Mit ihrem Trolley in der Hand ging sie langsam auf den älteren Herrn zu.
Sie setzte sich neben ihn und beide beobachteten schweigend das Kommen und Gehen der Wellen und die vorbeiziehenden Fischkutter. Erst nach ein paar Minuten wandte Lydia ihr Gesicht dem Mann zu und berührte ihn leicht am Arm. Er zuckte zusammen und starrte sie an. Tränen traten in seine Augen. Dann nahm er ihre Hand in seine und hielt sie fest.
Ich atmete auf. Tatsächlich! Lydia schien ihren Lorenzo gefunden zu haben. Nach über sechzig Jahren!
Nils lächelte mir zu und zusammen traten wir langsam den Rückweg an. Doch nach einigen Metern blieb ich stehen und drehte mich noch einmal um. Versonnen ließ ich meinen Blick einige Augenblicke auf Lydia und Lorenzo ruhen. Auf zwei kleinen gebeugte Gestalten, die vor einer langsam tiefer sinkenden Sonne auf einer Bank am Meer saßen und sich an den Händen hielten.
Auf dem Rückweg hingen Nils und ich beide unseren Gedanken nach. Hinter dem Pier kletterte ich über eine Mauer auf den breiten Sandstrand, streifte meine Flip Flops ab und genoss es, den warmen, weichen Sand unter meinen Füßen zu spüren. Nils folgte meinem Beispiel und gemeinsam schlenderten wir einige Meter am Meer entlang. Einen erneuten Blick zurück auf den Pier vermied ich. Ich wäre mir wie ein Voyeur dabei vorgekommen.
Den kleinen Jungen vor mir sah ich erst, als ich schon fast über ihn stolperte. Er saß mit einer Windel im Sand und schlug mit einer roten Schaufel auf einen Eimer ein. Fröhlich zeigte er mir ein breites Lächeln, das exakt anderthalb Zähne entblößte.
Unweigerlich blieb ich stehen und kniete mich zu ihm nieder.
„Da!“ Der kleine Junge schien hoch erfreut darüber zu sein, in mir einen neuen Spielgefährten gefunden zu haben, denn er gab sofort kieksende Laute von sich und reichte mir seinen Ball herüber. Ich nahm ihn, säuselte in Babysprache auf ihn ein, obwohl er garantiert kein Wort verstand, und rollte ihm den Ball zwischen die Beine. Der Junge warf ihn zurück und wir spielten einige Minuten miteinander, bis der Kleine den Ball auf einmal überraschend weit an mir vorschleuderte. Erst da wurde mir bewusst, dass ich mich nicht allein, sondern in Begleitung von Nils am Strand befand. Doch der stand einige Meter weiter mit den Füßen im Meer und schien es nicht eilig zu haben.
Ich verabschiedete mich von meinem Spielkameraden, der ein enttäuschtes Gurgeln hören ließ, warf ihm den Ball noch ein letztes Mal zurück und überquerte dann zusammen mit Nils den Strand, um wieder auf die Uferpromenade zu stoßen.
Dort saßen zwei mexikanische Männer auf einer Bank. Sie hatten einen CD-Player dabei und begleiteten die Musik des Buena Vista Social Clubs mit zwei Trommeln und einer Klarinette. Die lateinamerikanischen Rhythmen vertrieben meine Melancholie und so warf ich den beiden Musikern zwei Euro in den Hut. Als ich den Geldbeutel wieder zurück in die
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