Avalon 08 - Die Nebel von Avalon
sein. Igraine verstand, daß der König zum Wohl seines Volkes vielleicht Dinge getan hatte, die schwer auf seinem Gewissen lasteten. Aber wenn selbst
sie
das verstehen und vergeben würde, wie konnte dann ein gnädiger Gott strenger und rachsüchtiger sein als der geringste Mensch? Vermutlich war dies eines dieser christlichen Geheimnisse …
Igraine dachte noch immer über diese Dinge nach, als sie an Gorlois' Seite zur Messe ging und hörte, wie der Priester düster vom Jüngsten Tag, von Gottes Gericht und seinem Zorn sang, wenn die Seele vielleicht der ewigen Verdammnis überantwortet wurde. Und während dieser Hymne entdeckte sie Uther Pendragon. Er kniete am anderen Ende der Kirche; sein Gesicht wirkte bleich über der hellen Tunika. Er hob die Hand vor die Augen, um seine Tränen und sein Schluchzen zu verbergen. Etwas später stand er auf und verließ die Kirche.
Igraine bemerkte, daß Gorlois' Augen sie durchbohrten. Sie blickte zu Boden und lauschte ergeben der nicht enden wollenden Messe.
Nach dem Requiem versammelten sich alle vor der Kirche. Gorlois machte Igraine mit der Frau von Uriens, des Königs von Nordwales, bekannt, einer molligen, ernsten Matrone, und mit der Gattin des Ectorius. Sie hieß Flavilla, war schlank und lächelte freundlich. Sie konnte nicht viel älter als Igraine sein, die sich mit den beiden Frauen unterhielt. Aber sie beschäftigten sich nur mit den möglichen Folgen, die Ambrosius' Tod für ihre Ehemänner und die Soldaten haben konnte. Igraines Gedanken schweiften schnell ab; das Gerede der Frauen bedeutete ihr nur wenig, und ihre frömmelnde Trauer bedrückte sie. Flavilla war etwa im sechsten Monat schwanger, und ihr Leib unter der römischen Tunika begann sich zu wölben. Es dauerte nicht lange, und das Gespräch kreiste um die Familien. Flavilla hatte bereits zwei Töchter geboren, die im Jahr zuvor am Sommerfieber gestorben waren. Jetzt hoffte sie auf einen Sohn. Uriens Gemahlin Gwenyth hatte einen Sohn in Morgaines Alter. Sie erkundigte sich nach Igraines Tochter und pries die Wirkung von Bronzeamuletten gegen das Winterfieber. Sie glaubte sogar, ein Meßbuch in der Wiege helfe gegen Rachitis.
»Rachitis kommt von schlechter Ernährung«, erklärte Igraine. »Meine Schwester ist eine heilkundige Priesterin. Sie sagte mir, ein
Kind, das zwei Jahre von einer gesunden Mutter gestillt wird, bekommt keine Rachitis. Die Krankheit tritt nur auf, wenn eine unterernährte Amme das Kind stillt, oder wenn es zu früh entwöhnt und mit Hafergrütze gefüttert wird.«
»Das ist dummer heidnischer Aberglaube«, entgegnete Gwenyth, »das Meßbuch ist heilig und wirkt gegen alle Gebrechen, besonders gegen die Krankheiten kleiner Kinder, die getauft und von den Sünden ihrer Väter losgesprochen wurden und selbst noch keine begangen haben.«
Igraine zuckte ungeduldig mit den Schultern. Es war müßig, über solchen Unsinn zu reden. Die Frauen schnatterten weiter über Amulette und ihre besonderen Kräfte gegen Kinderkrankheiten. Igraine stand daneben, blickte sich um und wartete auf eine gute Gelegenheit, die Gesellschaft zu verlassen. Es dauerte nicht lange, und eine andere Frau trat zu ihnen. Igraine kannte sie nicht. Auch sie war hochschwanger, und die beiden anderen Frauen zogen sie sofort in ein Gespräch. Igraine hatten sie völlig vergessen. Kurze Zeit später stahl sie sich davon. Ohne daß jemand ihr zuhörte, sagte sie, sie wolle Gorlois suchen und ging hinter die Kirche. Dort war ein kleiner Friedhof und dahinter ein Gärtchen mit Apfelbäumen. An den dunklen Zweigen hingen weiße Blüten, die in der Dämmerung leuchteten. Igraine freute sich über den frischen Blütenduft, denn der Gestank in der Stadt war ihr zuwider. Hunde und Menschen verrichteten ihre Notdurft auf den gepflasterten Straßen. Vor jeder Tür häuften sich Küchenabfälle, deren Gerüche sich mit dem Gestank von Urin, verwesendem Fleisch und dem Inhalt der Nachttöpfe vermischte. Auch auf Tintagel gab es Abfall und Kot, aber Igraine achtete peinlich darauf, daß alles nach ein paar Wochen vergraben wurde; und die reine Meeresluft trug die üblen Gerüche davon.
Langsam ging sie durch den Garten. Manche Bäume waren sehr alt und hatten knorrige Äste, die tief bis auf den Boden hingen. Plötzlich hörte sie ein Geräusch und sah auf einem der niedrigen Äste einen Mann sitzen. Er nahm Igraine nicht wahr, hielt den Kopf gesenkt und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Aber an den blonden Haaren
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