Avalon 08 - Die Nebel von Avalon
der die Flügel entfaltet, nachdem er den Kokon verlassen hat. Es breitete die Flügel aus, und die Dunkelheit, die sie umgab, war verschwunden. Das Furchteinflößende, das sie gewarnt hatte, war nichts weiter als eine verschleierte Gestalt, eine Frau wie sie selbst – eine Priesterin, bestimmt keine Göttin und auch nicht die uralte Todesbotin. Igraine sagte entschlossen:
»Uns bindet der Schwur von Leben zu Leben und darüber hinaus, du hast kein Recht, es zu verbieten.«
Plötzlich sah Igraine an ihren Armen die goldenen Schlangen, die sie in ihrem seltsamen Traum vom Ring der Steine getragen hatte. Sie hob die Arme und rief ein Wort in einer fremden Sprache. Später konnte sie sich noch nicht einmal an eine einzige Silbe erinnern. Sie wußte nur, es begann mit einem großen
»Aaahhh…«,
und es war ein Wort der Macht. Sie wußte auch nicht, wie ihr dieses Wort im Augenblick höchster Not eingefallen war, denn in diesem Leben war sie keine Priesterin. Die bedrohliche Gestalt war verschwunden, und Igraine sah Licht, ein Licht, wie von den Strahlen der aufgehenden Sonne… Nein, es war das schwache Glühen eines Sturmlichts, das durch ein Hornblättchen in dem Holzkasten drang. Es war nur ein Funken im eisigen Schatten einer kleinen steinernen Hütte, deren Mauern halb eingefallen und nur notdürftig mit Schilf ausgebessert waren. Aber durch ein merkwürdiges, nicht vorhandenes Licht – oder konnte sie körperlos und ohne Augen in der Dunkelheit sehen? – entdeckte sie ein paar Gesichter, Gesichter, die Uther in Londinium umgeben hatten: Könige, Häuptlinge und Soldaten. Erschöpft und halb erfroren kauerten sie um dieses winzige Licht, als könne das zittrige Flämmchen sie erwärmen. Uther befand sich unter ihnen – ausgemergelt und erschöpft; seine Hände voll blutiger Frostbeulen, den wollenen Umhang hatte er fest um den Kopf gewickelt und unter dem Kinn gebunden. Dies war nicht der stolze und königliche Priester und Geliebte, den sie in ihrer ersten Vision gesehen hatte; auch nicht der unbeholfene und täppische junge Mann, der den Gottesdienst gestört hatte. Aber dieser erschöpfte, abgezehrte Mann, dem die feuchten Haare strähnig ins Gesicht fielen, das die Kälte dunkel rötete, erschien ihr plötzlich wirklicher und schöner als je zuvor. Igraine überkam Mitleid, sie wollte den König in die Arme nehmen, ihn wärmen, und es schien, als rufe sie:
Uther!
Sie wußte, er hatte es gehört, denn sie sah, wie er den Kopf hob und sich in der bitterkalten Hütte umblickte und zitterte, als habe ihn ein noch eisigerer Wind gestreift. Dann
sah
sie durch die Mäntel und Umhänge, in die sein Körper gehüllt war, die Schlangen an seinen Armen. Sie waren nicht wirklich; sie wanden sich wie lebendiges Getier, aber keine Schlange der Welt hätte bei diesem Wetter ihr Nest verlassen. Und doch sah Igraine sie; auf irgendeine Weise sah Uther auch Igraine, öffnete den Mund und wollte sprechen. Aber sie gebot ihm zu schweigen.
Du mußt dich marschbereit machen, oder du bist verloren!
Diese Botschaft formte sich auf ihren Lippen, aber nicht zu Worten. Igraine wußte, ihre Gedanken sprachen zu seinen Gedanken.
Kurz nach Mitternacht wird das Schneetreiben aufhören. Gorlois und seine Soldaten glauben, ihr könntet euch nicht von der Stelle rühren. Sie wollen euch überfallen und niedermachen. Bereite dich auf ihren Angriff vor!
Tonlos drangen diese Worte mit dem letzten Funken Kraft, der ihr geblieben war, auf Uther ein. Noch während sie die Gedanken formte, wußte Igraine, daß ihre Willenskraft schwand, die sie entgegen den Gesetzen dieser Welt über den Abgrund zu ihm gebracht hatte. Sie war an solche Dinge nicht gewöhnt; sie kämpfte darum, Uther nicht ohne Warnung verlassen zu müssen. Würden die Männer ihm glauben, würden sie sich auf den Angriff vorbereiten? Oder würden sie nach dem Sturm reglos in der Dunkelheit verharren, und Gorlois würde sie finden wie der Fuchs die Hühner auf der Stange? Igraine konnte nicht mehr. Eine tödliche Kälte, die Ohnmacht völliger Erschöpfung, überkam sie, und sie spürte sich in die Eiseskälte und in die Dunkelheit entschwinden. Der Sturm schien durch ihren Körper hindurchzutoben…
… Sie lag auf dem Steinboden vor der kalten Asche. Ein eiskalter Wind blies, als sei der Sturm, der die ganze Vision begleitet hatte, ihr gefolgt und rase auch hier, in ihrem Körper… Nein, das war es nicht! Die hölzernen Fensterläden waren aufgeflogen und schlugen in den
Weitere Kostenlose Bücher