Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
arbeiteten offenbar streng nach Vorschrift, und diese Vorschriften besagten, dass die Nachbarn zu befragen waren und ihnen identische Fragen gestellt werden mussten, auch wenn sich daraus keine Erkenntnisse gewinnen ließen. Die Polizeibeamtin hatte sich nicht umgesehen, hatte weder das Bild betrachtet, das über dem wackligen Sideboard an der Wand gegenüber dem Sofa hing, eine Reproduktion von van Goghs »Schlafzimmer in Arles«, noch hatte sie dem alten, hässlichen braunen Sofa Beachtung geschenkt, über dem ein weißer Überwurf mit schwarzen Streifen lag, der die Flecken verbergen und es gleichzeitig vor weiteren Flecken schützen sollte. Auch die Spielsachen, die auf dem Fußboden verstreut lagen und das Wohnzimmer wie einen Abstellraum aussehen ließen, hatte sie ignoriert. Dennoch registrierte Seev durch ihre Augen, wie provisorisch die Wohnung wirkte und wie hässlich das Licht der Lampen war, die sie am Abend beleuchteten.
»Ich habe Ofer weder gestern noch heute gesehen«, erwiderte er, »und mein Eindruck von ihm ist der eines angenehmen und introvertierten Jungen.«
Sie notierte etwas mit schwarzem Kugelschreiber. Was hatte sie denn zu schreiben?
»Ich mache mir Notizen, während Sie reden, in Ordnung? Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen, vielleicht erinnern Sie sich?«
»Nicht an das genaue Datum. Sicher irgendwann in dieser Woche, im Treppenhaus. Ich unterrichte an einer weiterführenden Schule, deshalb verlassen wir das Haus in etwa zur selben Zeit und begegnen uns manchmal.«
»Und wirkte er so wie immer, oder war etwas an seinem Verhalten ungewöhnlich? Ist Ihnen etwas aufgefallen?«
Seev war frustriert, dass er von dem Gespräch zwischen Michal und dem ranghöheren Ermittler nichts mitbekam und nur Ilay weinen hörte, der auf den Knien seiner Mutter saß und von Augenblick zu Augenblick gereizter wurde. Der Kleine war müde und konnte auch die Tatsache nicht ertragen, dass zwei Personen sich miteinander, aber nicht mit ihm unterhielten. »Vielleicht möchten Sie ja doch etwas trinken?«, fragte Seev in der Hoffnung, kurz in die Küche gehen zu können. Er war noch immer unschlüssig, in welcher Phase der Befragung er sie überraschen sollte. Oder sollte er sich die Überraschung doch besser für den leitenden Ermittler aufheben?, überlegte er.
»Nein, danke. Also, gibt es noch etwas, das Sie über den Vermissten oder seine Familie wissen und uns mitteilen möchten? Bekomme Sie von dort manchmal Streitigkeiten, Diskussionen oder lautstarke Wortwechsel mit?«
Jetzt konnte Seev nachvollziehen, warum der leitende Beamte sich mit Michal hatte unterhalten wollen. Offenbar nahm er an, sie sei die meiste Zeit daheim und würde daher mehr über das Geschehen im Haus wissen.
»Überhaupt nicht«, sagte Seev. »Manchmal ist es ein bisschen lauter, sie haben drei Kinder und wohnen direkt über uns. Aber mir scheint, in letzter Zeit sind wir es, die für den meisten Lärm im Haus sorgen.« Er lächelte und fragte sich, ob sie verstanden hatte, was er meinte. Ihr Kopf war über das Klemmbrett geneigt, das sie auf den Knien balancierte, ihr Blick fest auf den Bogen Papier geheftet, als wäre sie eine kurzsichtige Schülerin bei einer Prüfung. »Wir sind gerade mal vor gut einem Jahr hergezogen, bevor Ilay geboren wurde. Vorher haben wir in Tel Aviv gewohnt, und ich arbeite noch immer dort. Ich unterrichte am Städtischen Gymnasium 1, neben der Cinematheque, wenn Sie wissen, wo das ist.«
»Und was war Ihr allgemeiner Eindruck von dem vermissten Jungen, war er wohlerzogen, oder hatten Sie in der Vergangenheit schon mal Ärger mit ihm?«
Es war furchtbar. Sie hörte nicht einmal den Antworten auf die Standardfragen, die sie stellte, richtig zu.
»Nie. Wie ich Ihnen gesagt habe, ich halte ihn für einen angenehmen und introvertierten Jungen.« Er zögerte einen Moment, warf noch einen Blick in die Küche und sagte dann: »Ich kenne ihn viel besser, als es normalerweise unter Nachbarn üblich ist.«
Sie hob den Kopf nicht, sondern schrieb weiter.
»Inwiefern?«
»Insofern, als dass ich ihm vier Monate lang Nachhilfeunterricht in Englisch erteilt habe.«
»Und wie war er?«
»Was soll das heißen: Wie war er? Meinen Sie, wie er als Schüler war?«
»Als Schüler, als Mensch. Was war Ihr Eindruck von ihm?«
Ihr inflationärer Gebrauch des Wortes Eindruck weckte ein gequältes Lächeln bei ihm.
»Mein Eindruck war, dass er ein Junge ist, der wirklich lernen will, aber dass Englisch nicht
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