Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
wieder laut. Seev hörte ihn aufgebracht sagen: »Schafft ihn zurück, ich kann mich jetzt nicht mit ihm befassen, und es ist nicht meine Schuld, dass diese Idioten die Mitteilung nicht bekommen haben.« Danach brüllte er in sein Mobiltelefon: »Das kann nicht warten. Seit heute Morgen versuche ich sie zu erreichen. Holt sie verdammt noch mal aus dieser Besprechung.«
Kurz danach lief der Polizist zu der Grünanlage vor dem Gebäude hinüber, stolperte beinahe, als er gegen einen Stein trat, begann, etwas unter den Büschen zu suchen, und zog schließlich seine Hände wieder hervor, ohne etwas gefunden zu haben. Seine Bewegungen hatten etwas Ungelenkes. Plötzlich hob der Polizeibeamte den Kopf, offenbar um den Blick eines Kollegen aufzufangen, der auf dem Balkon im dritten Stock auf ihn wartete. Seev wusste nicht, was der Polizist gesucht hatte, und auch nicht, ob er seine Augen bemerkt hatte, die ihn aus dem zweiten Stock durch den schmalen Spalt in den Sonnenblenden beobachtet hatten, ehe er sich hastig in sein Arbeitszimmer zurückzog. Danach erschien Hannah Sharabi für einige Minuten auf dem Gehweg vor dem Haus, umgeben von drei Polizeibeamten. Gestikulierend erklärte sie ihnen etwas und wirkte dabei, als dirigierte sie die Beamten. Hätte Seev die Sonnenblenden ganz aufgeschoben, hätte er sie hören können. Nachbarn schauten aus den Fenstern nach unten, auch aus den umliegenden Häusern. Hannah Sharabis Mann und die Kinder sah er nicht.
Er versuchte sich auf die Klausuren zu konzentrieren. Der Grammatikteil war leicht zu korrigieren, doch die Kurzaufsätze verlangten einige Aufmerksamkeit. Das Thema lautete: »What will the world look like in 25 years.« Es sollte zur Einübung der Futurformen dienen und stand außerdem in Verbindung mit der Diskussion, die Seev nach der Lektüre einiger Seiten aus Aldous Huxleys »Schöne neue Welt« in seiner Klasse versucht hatte anzuregen.
Nach jeder Klausur suchte er auf den Nachrichtenseiten und auf Google News nach Meldungen über die Stadt Cholon oder den Namen Sharabi. Ilay schlief jetzt schon mehr als zwei Stunden, viel länger als sonst am Mittag, weshalb Michal Zeit gefunden hatte, zu duschen und sich anzuziehen. Als sie unter der Dusche war, schien es ihm für einen Moment, als wären Ilay und Michal außer Haus, was für ihn einen kurzen Augenblick tiefer innerer Ruhe bedeutete.
Sie kam auf den Balkon, küsste Seev auf die Wange und fragte: »Wie geht’s voran?«
Er sagte, er werde rechtzeitig fertig, und stand auf, um sich einen Tee mit Milch zu machen.
Kurz vor vier wachte Ilay auf und begann wie üblich zu weinen. Seev beeilte sich, die Korrektur der letzten Klausur zu beenden, und löste seine Frau ab. Sie ging auf den Balkon und nahm an dem Schreibtisch Platz, an dem er bis eben gesessen hatte, um ihren Unterricht für den nächsten Tag vorzubereiten. Er saß mit Ilay auf dem Teppich im Wohnzimmer und spielte mit ihm mit den Bauklötzen. Er errichtete einen niedrigen Turm aus bunten Holzklötzen, den Ilay zum Einsturz brachte, worauf er seinen Vater mit Befriedigung und Stolz ansah. Danach versuchte Seev, ihn für zwei bunte Pappbilderbücher zu interessieren, eines davon mit einem Spiegel, was ihm für einige Minuten gelang. Er war angespannt, aber die Anspannung war gut, war nahe an Ungeduld. Er kämpfte gegen die Versuchung an, Ilay in seinen Hüpfsitz vor den Fernseher zu setzen und herauszufinden, was sich unten vor dem Haus tat. Der Kleine spürte dies offenbar instinktiv. Er wimmerte und versuchte, zu seiner Mutter zu krabbeln. Seev sagte zu Michal: »Ich glaube, ich dreh mal eine Runde mit ihm, brauchst du etwas aus dem Laden?«
An einem Strommast vor dem Haus sah er den ersten Anschlag. Ofers Gesicht, ein wenig verschwommen, mittig ausgedruckt auf einem normalen DIN -A4-Blatt, das in einer Klarsichthülle an dem Betonpfeiler hing. Ein dunkles, sehr hageres Gesicht, schwarze, tief liegende Augen, eine kleine Nase und schmale Lippen, darüber schwarzer Flaum, der bereits nach einer Rasur verlangte. Er wirkte ernst auf dem Foto. Lächelte nicht, schaute aber direkt in die Kamera. Seev erinnerte sich an dieses Gesicht, es war sehr ernst. Ihm kam der Gedanke, dass Ofer auf dem Bild beinahe mexikanisch aussah und nichts von seiner Zartheit darauf zu erkennen war. Das Foto zeigte eher das Konterfei eines Verdächtigen als das Gesicht eines verschwundenen Jungen.
Über dem Bild prangte in dicken Großbuchstaben das Wort GESUCHT und darunter
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