Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
Jahres ein paar Nachhilfestunden gegeben hast, bei ihnen in der Wohnung. Dass er nie bei uns gewesen ist und ich außer ›Hallo‹ und ›Guten Tag‹ im Treppenhaus nicht mit ihm gesprochen habe, vielleicht ihn einmal gefragt habe, wie es mit dem Englisch läuft oder so etwas in der Art. Und ich habe ihm gesagt, dass ich diese Woche tatsächlich eine Diskussion oder einen Streit von oben mitbekommen habe, ziemlich spät war das, und dass ich meine, es war vorgestern, Dienstagabend, an dem Abend, bevor er verschwunden ist, aber dass ich keine Ahnung habe, wer gestritten hat und worüber und ob es etwas mit Ofer zu tun hatte. Vielleicht hatten die Eltern eine Auseinandersetzung.«
Das war die vierte Überraschung. Seev war fassungslos. »Und das hast du tatsächlich gehört?«, fragte er.
Sie lachte und erwiderte: »Was denn, sollte ich ihm das einfach so erzählen? Hast du denn nichts gehört?«
»Ich erinnere mich nicht. Kann sein, dass ich schon geschlafen habe. Vielleicht war es ja ihr Fernseher?«
»Weißt du was?«, meinte sie. »Gut möglich.«
Sie aßen etwas Leichtes zu Abend und schauten »Ein Star wird gesucht« im Fernsehen, nachdem Michal Ilay in den Schlaf gewiegt hatte. In den Nachrichten brachten sie nichts über Ofer. Michal verschwand wieder auf den Balkon, um weiterzuarbeiten, und Seev saß im Wohnzimmer und schlug Ian McEwans »Am Strand« auf, ein elegisches, sehr schmales Buch über ein Leben, das durch ein Schweigen vergeudet wird. Er las den Roman seit einigen Tagen, in kleinen Portionen, und jedes Mal erfüllte er ihn mit Traurigkeit. Positiv vermerkte er für sich die Sparsamkeit und Detailgenauigkeit dieses britischen Autors, den er zuvor nicht gekannt hatte.
Ilay gab ein Wimmern von sich, und Seev ging ins Kinderzimmer und schob ihm den Schnuller wieder in den Mund. Das letzte Glas Tee des Tages hob er sich auf. Wartete auf Inspektor Avraham, hatte vor, ihm einen Kaffee anzubieten und mit ihm zu trinken. Dieser Tag hatte weniger gehalten, als er versprochen hatte. Und Seev spürte, dass er so viel zu sagen hatte. Aus dem Treppenhaus hörte er Stimmen an- und abschwellen, wusste aber nicht, ob diese mit der Suche nach Ofer zusammenhingen oder mit dem Leben selbst. Nachbarn kamen und gingen, eine Klingel schellte, eine Frau sagte: »Ich.« Türen wurden zugeschlagen, das Licht ging an und aus. Der Verkehr draußen wurde weniger. Nach elf breitete sich Stille im Haus aus. Avraham würde nicht mehr kommen. Seev stellte die beiden unbenutzten Kaffeetassen, die auf der Arbeitsplatte bereitgestanden hatten, zurück in den Küchenschrank, zog sich im Bad um, putzte sich die Zähne und schlüpfte ins Bett.
Michal kam kurz nach ihm ins Schlafzimmer, wie immer noch vollständig angezogen. Sie breitete den Pyjama auf dem Bett aus, legte ihre Kleidung ab und zog sich langsam den Pyjama über, wobei sie Seev betrachtete, wie er las. Er nahm die Augen nicht von dem Buch, als sie den BH abstreifte. Im Zimmer hing etwas Schamloses. Sie zog sich vor einem anderen Mann aus, den sie noch nicht kannte.
»Denkst du an Ofer?«, fragte sie.
»Ja.«
»Was denkst du?«
»Dass wir bei der Suche vielleicht mithelfen sollten. Wenn am Wochenende größere Suchaktionen stattfinden. Wir lassen Ilay bei deiner Mutter oder nehmen ihn in der Rückentrage mit.«
»Meinst du, Ofer ist von zu Hause weggelaufen?«
»Ich weiß nicht. Meinem Eindruck nach ist er kein Junge, der selbständig und stark genug für so etwas ist. Wegzulaufen erfordert jede Menge Mut. Das ist jetzt die zweite Nacht seit seinem Verschwinden, und er muss ja irgendwo schlafen.«
Seine Worte ließen sie erschaudern. »Die arme Mutter«, sagte sie. »Ich mag mir nicht mal vorstellen, wie ich mich jetzt fühlen würde. Zwei Nächte, und du hast nicht die leiseste Ahnung, wo sich dein Sohn befindet. Das ist furchtbar.«
Seev schlief vor ihr ein. Er sank schnell in den Schlaf. Einen Augenblick zuvor war er noch wach und hatte im nächsten schon die Augen fest geschlossen. Sie sah seine ruhigen Atemzüge und ging in Ilays Zimmer, um sich zu vergewissern, dass er zugedeckt war. Der Junge seufzte, streckte die Hände nach ihr aus, als sie die Decke um seinen kleinen Körper feststopfte, und murmelte im Schlaf Silben, die sie nicht verstand.
3
Ein langgezogener Klingelton aus der Gegensprechanlage weckte ihn am Freitagmorgen. Es war spät, er war viel später als sonst aufgewacht.
»Eine Sendung für Avi Avraham.«
Er öffnete die Tür mit dem
Weitere Kostenlose Bücher