Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst

Wand und danach gegen die andere gestoßen hatte.
    »Aber warum erklärt sie dann nicht klipp und klar, dass ihr Mann lügt?«, fragte er.
    »Sie hat doch gesagt, sie hat Angst vor ihm, oder? Das zumindest hat sie dir ausdrücklich gesagt. Du hast erzählt, sie hat sich nicht von der Version abbringen lassen, dass sie Ofer in seinem Zimmer gefunden und der Junge seiner Schwester nichts angetan hat. Aber ihr habt einfach entschieden, dem Vater zu glauben und nicht der Mutter.«

    Ilana ging nicht ans Telefon. Avraham hinterließ ihr eine Nachricht, er müsse dringend mit ihr reden. In seinem Kopf drehte sich alles. Er wollte sofort ins Auto steigen und zum Revier fahren, sich die Akte und die Aufzeichnungen der Verhöre noch einmal vornehmen, Rafael Sharabi in den Vernehmungsraum schaffen lassen und ihn abermals verhören, diesmal persönlich. Und er war nicht bereit, Abschied von Marianka zu nehmen. Er stand vor ihr, mit dem Rücken zur Wand.
    »Du kannst nicht fahren«, sagte er.
    »Am Montag fang ich wieder an zu arbeiten«, erwiderte sie.
    »Gib den Job auf.«
    »Und was dann?«
    Er könnte selbst kündigen. Er wollte ohnehin nicht mehr zurück. Seit er das Revier in jener Nacht verlassen hatte, sagte er sich, dass dies offenbar sein letzter Fall gewesen war.
    »Du darfst nicht kündigen«, erklärte Marianka. »Weißt du nicht mehr, was du mir gesagt hast: Du bist auch Polizist, wenn du gerade nicht Polizist bist?«
    Vielleicht konnte er jetzt loslassen. Er setzte sich wieder neben sie auf die Bank.
    »Lass dich nicht wegen eines Falls unterkriegen, auch wenn er sehr schwer war. Außerdem sind die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen. Erinnerst du dich, dass du mir gesagt hast, du könntest immer beweisen, dass sich der Ermittler eigentlich geirrt hat? Dass die tatsächliche Lösung anders aussieht als das präsentierte Ergebnis? Siehst du, genau das ist hier auch passiert.«
    »Aber so etwas kommt nicht im wirklichen Leben vor, nur in Kriminalromanen«, erwiderte er. Und hoffte, er irrte sich.
    In seiner Phantasie kehrte Ofer zurück, legte seinen Rucksack auf eine Parkbank und bettete seinen Kopf darauf.
    Er schloss die Augen.
    Der Himmel wurde dunkel.
    Sie hielten unterwegs bei seiner Wohnung, um Mariankas Koffer zu holen, und fuhren dann zum Flughafen.
    Avraham versprach, er wolle versuchen, seinen Urlaub zu verlängern und zu ihr zu kommen, vielleicht schon in zwei, drei Tagen.
    Sie umarmten einander fest, als würden sie sich nie wiedersehen, aber das stimmte nicht.
    Sie sahen sich wieder.

Über den Autor

    Dror Mishani ist Lektor bei Keter Books in Jerusalem und Literaturprofessor, spezialisiert auf die Geschichte der Kriminalliteratur. Vermisst ist sein erster Roman und der erste in einer Reihe rund um Inspektor Avi Avraham.

    Markus Lemke, 1965 in Münster geboren, studierte Orientalistik und Islamwissenschaft in Bochum und Kairo. Er übersetzte u.a. Yoram Kaniuk, Joshua Sobol und Nir Baram.