Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
sein, wenn Sie zurückkommen, schlage ich vor, dass Sie noch einmal mit dem Freund und vielleicht auch mit anderen Freunden von ihm sprechen und herausfinden, ob es Orte gibt, wo er manchmal hinfährt. Vielleicht hat er eine Freundin, von der Sie nichts wissen, oder vielleicht einen anderen Grund. Und versuchen Sie, sich zu erinnern: Kann es sein, dass er erwähnt hat, Pläne für Mittwoch zu haben? Vielleicht hat er Ihnen etwas erzählt, und Sie haben es vergessen?«
»Was für Pläne denn? Er hat mir gar nichts gesagt.«
»Und was ist mit seinen Geschwistern? Vielleicht hat er denen etwas erzählt, das uns beruhigen könnte? Oder anderen Verwandten, einem Cousin etwa oder seinem Großvater?«
Ihm schien, als weckte die Frage erneut etwas in ihr, den Anflug eines Gedankens, aber nur für einen kurzen Moment. Vielleicht hatte er sich auch getäuscht. Sie war auf dem Polizeirevier erschienen, weil sie gehofft hatte, jemand würde an ihrer Stelle die Verantwortung für ihren Sohn übernehmen und mit der Suche beginnen, und jetzt brachte sie die Unterredung durcheinander. Eigentlich hätte sie gar nicht hier sitzen sollen. Wäre ihr Mann im Land, würde er in Avraham Avrahams Verschlag sitzen und nicht sie. Er würde telefonieren, drohen und versuchen, Kontakte spielen zu lassen. Sie aber wurde einfach wieder nach Hause geschickt, versehen mit Anweisungen, wie sie selbst weiter nach ihrem Sohn suchen sollte, und der Beamte, der hier vor ihr saß, sprach über den Jungen, als wäre von einem anderen die Rede. Die Tatsache, dass er angefangen hatte, den Plural zu verwenden, damit sie nicht das Gefühl hatte, allein mit ihrer Sorge zu sein, half auch nicht. Er überlegte, dass sie sicher wollte, dass dieses Gespräch bald beendet wäre, gleichzeitig aber keinen Drang verspürte, wieder nach Hause zu gehen. Er hingegen wollte nichts lieber als das. Dennoch schrieb er, ohne dass sie es lesen konnte, »Ofer Sharabi« oben auf das Blatt und unterstrich den Namen mit zwei krakeligen Linien.
»Mit seinen Geschwistern spricht er kaum«, erklärte sie. »Sein Bruder ist erst fünf, und mit seiner Schwester ist er nicht so eng.«
»Schaden kann es trotzdem nicht. Davon abgesehen, haben Sie Computer zu Hause?«
»Einen. In seinem Zimmer, das er sich mit seinem Bruder teilt.«
»Gut, dann wäre da noch etwas, das Sie tun können. Lesen Sie seine E-Mails, sehen Sie auf seiner Facebook-Seite nach, falls er eine hat. Vielleicht hat er an irgendjemanden etwas geschrieben, das uns helfen kann, uns keine Sorgen mehr zu machen. Wissen Sie, wie man das macht?«
Er sah ihr an, dass sie nicht vorhatte, irgendetwas in der Art zu tun. Warum hatte er überhaupt davon angefangen? Sie würde nach Hause gehen und warten. Jedes Telefonklingeln und jeder Laut aus dem Treppenhaus würden sie aufschrecken. Und selbst wenn ihr Sohn heute Nacht nicht wiederauftauchte, würde sie nichts unternehmen. Sie würde warten bis zum Morgen und dann wieder auf dem Revier erscheinen, gekleidet in dieselben Sachen, die sie die Nacht über nicht ausgezogen hätte. Würde wieder vor ihm sitzen. Vielleicht würde sie erneut ihren Mann anrufen, aber der würde ihr nicht helfen können.
Sie schwieg und reagierte nicht auf seinen Vorschlag. Entweder weil sie beleidigt war, oder weil sie sich schämte zuzugeben, dass sie tatsächlich nichts von dem verstand, was er empfohlen hatte.
»Sehen Sie, Verehrteste, ich versuche wirklich zu helfen. Gegen Ihren Sohn liegt nichts vor, und Sie sagen, er sei in nichts verwickelt. Normale Kinder verschwinden nicht. Sie können beschließen, nicht zur Schule zu gehen, für ein paar Stunden von zu Hause wegzulaufen. Oder sie schämen sich, gehen, weil ihnen irgendetwas passiert ist, von dem sie das Gefühl haben, es sei schrecklich und unverzeihlich, obwohl es sich in der Regel um eine Bagatelle handelt. Und deswegen gehen sie nicht nach Hause. Aber sie verschwinden nicht. Ich versuche, Ihnen ein mögliches Drehbuch zu zeichnen: Ihr Sohn hat beschlossen, heute nicht zur Schule zu gehen, weil er eine wichtige Prüfung hatte und nicht richtig vorbereitet war. Wissen Sie, ob er eine Prüfung hatte? Vielleicht sollten Sie seinen Klassenkameraden danach fragen. Also, er war nicht vorbereitet, und weil er normalerweise gute Noten bekommt und seine Eltern nicht enttäuschen wollte, ist er nicht in die Schule gegangen und stattdessen durch die Straßen gelaufen oder in irgendein Einkaufszentrum gefahren. Dort hat ihn dann eine Lehrerin
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