Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
deutlich älter waren als er selbst, um dann kehrtzumachen und in die entgegengesetzte Richtung zu hasten oder aber die Straße zu überqueren, bis er eine andere Frau ausgemacht hatte und ihr hinterherging. Bei der Gegenüberstellung hatten ihn vier der sieben Opfer identifiziert. In den ersten Vernehmungen hatte er noch alles abgestritten, doch vorgestern begann er zu reden und gestand Dutzende von Delikten, die gar nicht Teil der Ermittlung waren, so etwa ein Fall von Brandstiftung in einem Altenheim in Chadera vor zwei Jahren oder eine versuchte Brandstiftung in einem Restaurant in Givat Olga 2005, die überhaupt nicht zur Anzeige gebracht worden war. Er war ein komischer Kauz, sein Hebräisch sonderbar und bruchstückhaft. Seine Mutter war in Kasan geblieben, sein Vater in Israel gestorben. Eine feste Adresse hatte er nicht. Einige Monate hatte er in einem Kellerraum in Chadera zur Miete gewohnt und vor einem halben Jahr war er bei Verwandten in Bat Yam eingezogen, eines Jobs wegen.
Avraham Avraham glaubte ihm nicht ein Wort. Bei einem der Überfälle hatte er den Arm der Marketingchefin einer Kosmetikfirma, einer Frau von fünfzig Jahren, gepackt und ihre Hand gewaltsam in seine Hose geschoben, an einem Freitagabend mitten auf der Strandpromenade. Ausweispapiere trug er nicht bei sich, als man ihn festnahm, und auch keinen einzigen Schekel, aber in seinem Rucksack fanden sich ein neuwertiger Präzisionskompass und ein Exemplar von S.J. Agnons Roman »Eine einfache Geschichte«, eine Schülerausgabe mit abgegriffenem, zerfleddertem blauen Taschenbucheinband. Auf der ersten Seite stand eine handschriftliche Widmung vom 10. August 1993: »Für Yoela, eine einfach verpasste Liebesgeschichte.« Der Name des Urhebers war mit Tipp-Ex überpinselt.
Avraham Avraham wusste nicht, warum er dachte, was er dachte. Aus irgendeinem Grund stellte er sich den Computerbildschirm im Zimmer von Ofer Sharabi und dessen Bruder vor. Ein alter, klobiger cremefarbener Kasten, so hatte er ihn vor Augen. Vor allem aber beschäftigte ihn der Altersunterschied zwischen den Kindern. Ein sechzehnjähriger Sohn, eine vierzehnjährige Tochter und ein Nachzügler von fünf Jahren. Warum lagen neun Jahre zwischen der Tochter und dem jüngsten Sohn? Warum hörte ein Paar, das angefangen hatte, Kinder in die Welt zu setzen, plötzlich damit auf und pausierte derart lange? Vielleicht wegen der wirtschaftlichen Situation der Familie, aufgrund gesundheitlicher Probleme oder einer Ehekrise? Womöglich war die Mutter auch zwischenzeitlich schwanger gewesen und hatte eine Fehlgeburt erlitten? Aber warum, zum Teufel, brauchte alles immer eine Erklärung? Nun dachte er über acht Uhr morgens nach. Drei Kinder brechen zur Schule und zum Kindergarten auf, und die Mutter bleibt allein zurück. In der Wohnung macht sich Stille breit. Die Zimmer sind leer, nur die weißen Gardinen im Wohnzimmer bewegen sich sacht im Wind. Was genau tut sie als Erstes? Vielleicht streift sie zunächst durch die verwaisten Räume. Geht in das Zimmer der Jungen mit dem Jugendbett, das sich vielleicht zu einem Sofa einklappen lässt, dem Schreibtisch, auf dem der alte Computerbildschirm steht, und dem Kinderbett mit Holzgitter an der Wand vis-à-vis. Dann in das Zimmer der Tochter, es ist ein kleiner, vielleicht weiß gestrichener Raum mit einem langen Spiegel an der Wand gegenüber der Tür, in dem sie sich selbst begegnet. In seiner Vorstellung trägt die Mutter einen Wäschekorb, während sie über den gefliesten Boden geht.
In der Alufej Zahal, der Haupteinfallstraße nach Kiryat Sharet, standen fünf Jugendliche, Jungen und Mädchen, an der Bushaltestelle der Nummer 97, die an der nördlichen Eisenbahnstation in Tel Aviv endete. Ein dickes Mädchen in wenig schmeichelhaften Leggins und einem grauen GAP -Sweatshirt zeigte einem der Jungen ausgelassen lachend etwas auf ihrem iPod. Sie drängte ihn, sich die Kopfhörer in die Ohren zu stecken, doch er sträubte sich und tat angewidert. Avraham Avraham bedachte das Grüppchen mit einem langen und ungewollt zu strengen Blick, sodass sie verstummten, als er an ihnen vorbeiging, und ihm zulächelten. Das Mädchen mit dem iPod machte vielleicht irgendeine belustigte Geste.
War Ofer hier bei ihnen gewesen? Er musste da gewesen sein, und wenn nicht hier, dann an einer anderen Bushaltestelle. Gegen Ende ihres Gesprächs, unmittelbar bevor sie widerstrebend ging, hatte ihm die Mutter gesagt, Ofer sei bereits zweimal von zu Hause
Weitere Kostenlose Bücher