Ayesha - Sie kehrt zurück
dort«, antwortete Oros, nahm uns bei den Händen und führte uns durch die Weite des Raums zum Altar.
Als wir uns dem Schrein mit der silbernen Statue näherten, wurde der Gesang der Priester und Priesterinnen lauter und bekam eine fröhliche, triumphierende Note, und es schien mir – aber das kann eine Sinnestäuschung gewesen sein –, daß die Flammensäulen noch heller brannten.
Schließlich standen wir vor dem Altar. Oros ließ unsere Hände los und warf sich dreimal zu Boden. Dann erhob er sich wieder, trat hinter uns und stand schweigend, mit gesenktem Kopf und gefalteten Händen. Auch wir standen schweigend, und in unseren Herzen mischten sich Angst und Hoffnung.
Waren wir jetzt am Ziel? Hatten wir die gefunden, die wir suchten, oder waren wir vielleicht in das Netz einer großartigen Scharlatanerie geraten und würden jetzt die Geheimnisse einer weiteren mystischen Glaubensform kennenlernen? Viele Jahre lang hatten wir gesucht, hatten alle Härten des Fleisches und der Seele erduldet, und jetzt sollten wir erfahren, ob unsere Leiden vergeblich gewesen waren. Ja, und Leo würde bald wissen, ob das Versprechen, daß Ayesha ihm gegeben hatte, erfüllt werden würde, oder ob sie, die er verehrte und liebte, zu einem verblaßten Traum geworden war, den man nur jenseits der Tore des Todes wiederfinden konnte. Es wunderte mich nicht, daß er zitterte, daß sein Gesicht in der Spannung des Wartens bleich wurde.
Es dauerte lange, lange; Stunden, Jahre, Äonen schienen zu vergehen, während wir vor dem glitzernden Silbervorhang standen, der die Front des schwarzen Altars bedeckte, vor dem Mysterium des sphinxgleichen Gesichts seiner Wächterin. Unsere ganze Vergangenheit zog an uns vorbei, als wir uns bemühten, die dunklen Wasser des Zweifels zu verdrängen. Stück für Stück, Detail um Detail, riefen wir uns die Geschichte ins Gedächtnis zurück, die in Kôr begonnen hatte.
Wir sahen nichts außer dem Altar und der Statue, und wir hörten nichts außer dem feierlichen Gesang der Priester und Priesterinnen und dem Zischen der riesigen Gasfeuer. Doch wir wußten, daß unsere Herzen offen lagen für die Eine, die im Schatten unter den Schwingen der Mutter wartete und uns beobachtete.
14
Das Totengericht
Jetzt wurden die Silbervorhänge zur Seite gezogen, und vor uns lag ein Raum, der der Größe des Altars entsprach. In seiner Mitte befand sich ein Thron, und auf dem Thron saß eine Gestalt, die in ein fließendes, blendend weißes Gewand gekleidet war, das vom Kopf über die Armlehne des Throns bis über die Marmorstufen reichte. Mehr konnten wir in der relativen Dunkelheit des Raums nicht erkennen, mit Ausnahme des ringförmigen Zepters, das die Gestalt in ihrer von den Falten des Gewands bedeckten Hand hielt.
Aus einem Impuls heraus taten wir, was Oros vorhin getan hatte, warfen uns zu Boden und verharrten kniend vor dem Thron. Nach einer Weile hörten wir das Klingen winziger Glocken, und als wir aufblickten, sahen wir, daß die Gestalt auf dem Thron uns das sistrenähnliches Zepter {*} mit ihrem verhüllten Arm entgegenstreckte. Dann sprach eine dünne, klare Stimme, und ich hatte den Eindruck, daß sie ein wenig zitterte. Sie sprach griechisch, und es war ein erheblich reineres Griechisch, als ich es von all den anderen Leuten gehört hatte.
»Ich begrüße euch, Wanderer, die ihr so weit gereist seid, um diesen alten Schrein aufzusuchen, und, obwohl zweifellos einem anderen Glauben angehörig, euch nicht scheut, der Unwürdigen, die jetzt sein Orakel und Wächter seiner Geheimnisse ist, eure Ehrerbietung zu erweisen. Erhebt euch nun und fürchtet euch nicht vor mir. Habe ich euch nicht meinen Boten und meine Diener geschickt, um euch zu diesem Tempel zu geleiten?«
Wir erhoben uns langsam und standen schweigend, da wir nicht wußten, was wir sagen sollten.
»Ich begrüße euch, Wanderer«, wiederholte die Stimme. »Sag mir« – und das Zepter deutete auf Leo – »wie wirst du genannt?«
»Ich heiße Leo Vincey«, antwortete er.
»Leo Vincey. – Mir gefällt der Name. Und du, Gefährte von – Leo Vincey?«
»Ich heiße Horace Holly.«
»So. Dann sagt mir, Leo Vincey und Horace Holly, zu welcher Suche seid ihr so weit gereist?«
Wir sahen einander an, und ich sagte: »Das ist eine lange und seltsame Geschichte, oh ... – mit welchem Titel sollen wir dich anreden?«
»Mit dem Namen, den ich hier trage: Hes.«
»O Hes«, sagte ich und hätte gerne gewußt, welchen Namen sie
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