Ayesha - Sie kehrt zurück
rechten eine Gruppe von Priestern war, die zur linken eine Gruppe von Priesterinnen, insgesamt etwa hundert von ihnen.
Jetzt nahmen die Männer vor uns Aufstellung, die Frauen hinter uns, und während sie noch immer sangen, setzten wir alle uns auf ein Zeichen von Oros hin in Bewegung und gingen einen schmalen Gang entlang, auf eine große, zweiflügelige Tür zu. Bevor wir sie erreichten, schwangen die Flügel auf, und vor uns lag das krönende Wunder dieses herrlichen Tempels, eine riesige, ellipsenförmige Apsis. Jetzt verstanden wir. Der Grundriß des Tempels war dem Pfeiler und dem Ring nachempfunden, der auf dem Gipfel des Berges stand, und, wie wir richtig vermuteten, die Dimensionen waren die gleichen.
In regelmäßigen Abständen rund um das Oval flammten Feuersäulen, sonst war der Raum schmucklos und leer.
Nein, nicht ganz, denn auf der gegenüberliegenden Seite, zwischen zwei Flammensäulen, stand ein riesiger Altar, der mit einem Vorhang aus Silberfäden umschlossen wurde, wie wir beim Näherkommen feststellten. Auf diesem Altar stand eine große Statue aus massivem Silber, die vor dem Hintergrund der schwarzen Felswand alles Licht der beiden Feuersäulen in ihrer glänzenden Oberfläche zu konzentrieren und zu reflektieren schien.
Es war eine wunderbare Arbeit, doch schwer zu beschreiben. Die geflügelte Figur stellte eine Frau dar, deren Körper von einem faltigen Gewand bedeckt wurde. Das Gesicht lag im Schatten der ausgebreiteten Flügel. Auf ihrem linken Arm, und an ihre Brust gedrückt, hielt sie ein Kind, ein männliches Kind, während der rechte zum Himmel emporwies. Offensichtlich eine Studie der Mutterschaft, doch wie soll ich den Ausdruck dieser in Silber geformten Gesichter beschreiben?
Beginnen wir mit dem Kind. Es war ein kräftiger Junge, voller Gesundheit und Lebensfreude. Doch er hatte geschlafen, und im Schlaf hatte ein Traum die Schatten von Tod und Schrecken auf ihn geworfen. Angst stand in den Linien um den kindlichen Mund, auf seinen Lippen und Wangen, die zu zittern schienen. Er hatte seinen kleinen Arm um den Hals der Mutter geschlungen, preßte sich fest an ihre Brust und sah sie an, in der Hoffnung, bei ihr Sicherheit zu finden. Seine rechte Hand deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger nach unten, um ihr zu zeigen, woher die Gefahr gekommen war. Doch sie war vorbei, schon halb vergessen, und die nach oben gerichteten Augen drückten neues Vertrauen aus, wiedererlangten Seelenfrieden.
Und die Mutter. Sie schien über seine kindlichen Ängste weder belustigt, noch verärgert, denn ihr schönes Gesicht wirkte aufmerksam und besorgt. Es zeigte einen Ausdruck unerschöpflicher Zärtlichkeit und unüberwindlicher Kraft; Sorge für die Hilflosigkeit ihres Kindes, die Stärke, es vor jedem Schaden zu behüten. Die großen, ruhigen Augen waren ein Spiegel ihrer Geschichte, die leicht geöffneten Lippen flüsterten von einer Hoffnung, die sicher und unvergänglich war; die erhobene Hand zeigte, woher diese Hoffnung kam. Alle Liebe schien sich in dieser Mutterfigur zu vereinigen, die so menschlich war, und doch so himmlisch; der ganze Himmel schien wie ein offener Pfad vor diesen ausgebreiteten Flügeln zu liegen. Und der leicht angehobene Fuß schien anzudeuten, daß sie im Begriff stand, dorthin aufzubrechen, um ihre gottgegebene Last von den Schrecken der Erde fortzubringen, zum immerwährenden Frieden des Himmels.
Die Statue stellte nur ein verängstigtes Kind in den Armen seiner Mutter dar, doch ihre Interpretation machte selbst dem Unempfindlichsten durch einen einfachen Symbolismus das Anliegen ihres genialen Schöpfers klar: Rettung der Menschheit durch das Göttliche.
Während wir die Schönheit der Statue bewunderten, nahmen die Priester und Priesterinnen um das Rund des Raums Aufstellung, und zwar in alternierender Folge, jeweils ein Mann neben einer Frau, und so weiter. So groß war der Umfang des Raums, daß sie in weiten Abständen voneinander standen; sie wirkten ein wenig verloren, wie einsame Kinder, und ihr feierlicher Gesang klang wie Echos, die von den Bergwänden zurückgeworfen werden.
Oros wartete, bis der letzte Priester seinen Platz erreicht hatte. Dann wandte er sich um und sagte mit seiner sanften, ruhigen Stimme: »Tretet nun näher, geliebte Wanderer, und begrüßt die Mutter.« Dabei deutete er auf die Statue.
»Wo ist sie?« fragte Leo flüsternd, denn in diesem Raum wagte wohl niemand, laut zu sprechen. »Ich sehe niemand.«
»Die Hesea lebt
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