Ayesha - Sie kehrt zurück
Marsches versuchten wir, so viele Informationen wie möglich von dem Priester Oros zu erhalten. Hier ist eine kurze Zusammenfassung dessen, was wir so erfahren haben:
Vom Anbeginn der Welt, wie er es ausdrückte, das heißt, vor vielen Tausenden von Jahren, war der Berg die Heimat eines Volkes von Feueranbetern, deren Hohepriester eine Frau war. Vor etwa zweitausend Jahren fiel das Heer eines Generals namens Rassen in Kaloon ein und eroberte das Land. Rassen setzte eine neue Priesterin auf dem Berg ein, eine Anhängerin der ägyptischen Göttin Hes, oder Isis. Diese Priesterin führte einige Änderungen in die alten Lehren ein, durch die der Feuerkult praktisch verdrängt und durch einen neuen Glauben ersetzt wurde, wobei jedoch einige der alten Zeremonien beibehalten wurden. Die neue Religion verehrte als oberste Gottheit den Geist des Lebens, oder Geist der Natur, dessen irdische Repräsentation die Priesterin des Berges war.
Von dieser Priesterin wollte Oros uns nur sagen, daß sie ›immer anwesend‹ sei doch schlossen wir aus anderen Bemerkungen, daß nach dem Tod einer Priesterin – er nannte es: ›wenn sie ins Feuer gegangen war‹ – deren Tochter, entweder eine leibliche oder eine adoptierte, ihre Nachfolge antrat und dieselben Namen führte: ›Hes‹, oder ›die Hesea‹, oder ›Mutter‹. Wir fragten, ob wir diese Mutter sehen würden, worauf er erwiderte, daß sie sich nur selten manifestiere. Über ihr Aussehen wollte er nichts sagen, außer, daß sie es von Zeit zu Zeit verändere.
In ihrem Tempel gab es dreihundert Priester, erklärte er uns, genau dreihundert, nie einen mehr oder einen weniger, und dreihundert Priesterinnen. Diejenigen von ihnen, die heiraten wollten, bekamen die Erlaubnis dazu, und aus ihren Kindern erwuchs die nächste Generation von Priestern und Priesterinnen. So waren sie eine völlig abgesonderte Kaste, mit deutlichen rassischen Charakteristiken. Das wurde allein schon durch die Tatsache demonstriert, daß unsere priesterlichen Begleiter einander sehr ähnlich sahen, elegant und kultiviert in Haltung und Aussehen, mit dunklen Augen, klaren Gesichtszügen und olivfarbener Haut, wie Angehörige der Oberschicht einiger ostasiatischer Nationen, mit einer kleinen Beimischung ägyptischer und griechischer Attribute.
Wir fragten ihn, ob der Pfeiler mit dem riesigen Ring, der am Rand des Kraters stand, ein Werk von Menschenhand sei. Er antwortete, daß es die Hand der Natur gewesen sei, die dieses Symbol geformt habe. Die erste Priesterin, die in der Säule das bekannte Lebenssymbol des ägyptischen Glaubenskultes erkannte, habe daraufhin in seinem Schatten ihre Altäre errichtet.
Der Berg und die an ihn grenzenden Gebiete würden von halbwilden Stämmen bewohnt, welche die Herrschaft der Hesea anerkannten und ihren Tribut in Form von Nahrungsmitteln und Metallen entrichteten. Den größten Teil des Bedarfs an Fleisch und Getreide produzierten die Priester jedoch auf eigenen Farmen selbst, und die Metalle wurden ebenfalls von ihnen verarbeitet. Diese Regel hatte moralische Wurzeln, da der Tempel nicht auf Eroberungen aus war und die Gewalt der Mutter sich darauf beschränkte, Verbrechen in der Art zu bestrafen, wie wir sie tags zuvor miterlebt hatten. Für die Kleinkriege zwischen den Stämmen und den Menschen der Ebene fühlte sie sich nicht verantwortlich, doch die Häuptlinge, die diese Kriege führten, wurden abgesetzt, es sei denn, sie waren die Angegriffenen. Alle Bergstämme waren auf die Verteidigung der Hesea und ihres Tempels eingeschworen, und, ungeachtet ihrer vielen Streitigkeiten untereinander, waren sie, wenn es nötig wurde, bereit, bis zum letzten Mann für sie zu kämpfen und zu sterben. Daß es eines Tages wieder zum Krieg zwischen den Priestern des Berges und dem Volk von Kaloon kommen würde, war unvermeidlich, und deshalb seien sie bemüht, sich auf diesen Endkampf vorzubereiten.
Das war der Inhalt der Geschichte, die uns der Priester Oros erzählte, und die, wie wir später feststellten, in jeder Einzelheit stimmte.
Gegen Sonnenuntergang erreichten wir einen riesigen Talkessel, der mehrere hundert Hektar umfaßte; er lag unmittelbar unterhalb der Schneegrenze des Gipfels und war mit fruchtbarem Boden bedeckt, der wohl, wie ich vermute, aus dem in vielen Jahrtausenden herabgewaschenen Geröll gebildet worden war. Durch seine Form und den steilen Gipfelhang geschützt, gediehen hier trotz der Höhenlage Mais und andere Pflanzen der gemäßigten Zonen
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