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Azathoth - Vermischte Schriften

Azathoth - Vermischte Schriften

Titel: Azathoth - Vermischte Schriften Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Howard Phillips Lovecraft
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hielt. Als die Lokomotive bei einer Kurve oder einem Bahnübergang scharf pfiff, fuhr der Schläfer nervös auf und versank in eine Art wachsamen Halbschlaf. Er hob den Kopf, und es zeigte sich ein hübsches Gesicht, bärtig und eindeutig angelsächsisch, mit dunklen, strahlenden Augen. Bei meinem Anblick erwachte er völlig, und ich wunderte mich über die ausgesprochen feindselige Wildheit seines Blicks. Zweifellos, dachte ich bei mir, nahm er mir meine Anwesenheit übel, da er doch gehofft hatte, er würde das Abteil die ganze Strecke für sich allein haben, ebenso wie ich enttäuscht war festzustellen, daß ich in dem halberleuchteten Abteil seltsame Gesellschaft hatte. Es blieb jedoch nichts anderes übrig, als sich mit Anstand in die Lage zu fügen. Darum entschuldigte ich mich bei dem Mann für mein Eindringen. Er schien wie ich Amerikaner zu sein, und nach dem Austausch einiger Höflichkeitsfloskeln konnten wir uns beide gelassener fühlen und einander für die übrige Reise in Frieden lassen. Zu meiner Überraschung reagierte der Fremde auf meine höflichen Bemerkungen mit keinem Wort. Statt dessen starrte er mich ungestüm und beinahe abschätzig an und wischte mein verlegenes Angebot einer Zigarre mit einer nervösen Bewegung seiner freien Hand beiseite. Die andere Hand hielt noch immer den großen, abgenutzten Koffer fest. Sein ganzes Wesen schien eine dunkle Bösartigkeit auszustrahlen. Nach einiger Zeit wandte er sein Gesicht abrupt dem Fenster zu, obwohl es in der dichten Dunkelheit draußen nichts zu sehen gab.
    Merkwürdigerweise schien er so gebannt irgendwohin zu starren, als gäbe es dort wirklich etwas zu sehen. Ich beschloß, ihn nicht weiter zu beachten und ihn, ohne zu stören, seinen Überlegungen und Plänen zu überlassen. Ich lehnte mich also in meinen Sitz zurück, zog den Rand meines weichen Hutes über das Gesicht und schloß die Augen bei dem Versuch, den Schlaf zu erhaschen, mit dem ich halb gerechnet hatte.
    Ich konnte nicht sehr lange oder sehr tief geschlummert haben, als sich meine Augen öffneten, wie von einer äußeren Kraft gezwungen. Ich schloß sie wieder mit einiger Willensanstrengung und versuchte neuerlich einzuschlummern, jedoch ohne Erfolg. Ein nicht spürbarer Einfluß schien es darauf abgesehen zu haben, mich wach zu halten. Ich hob den Kopf und blickte mich in dem schwach erleuchteten Abteil um, um herauszufinden, ob etwas nicht in Ordnung sei. Alles schien normal zu sein, doch bemerkte ich, daß mich der Fremde in der gegenüberliegenden Ecke gespannt ansah - aufmerksam, jedoch ohne die Umgänglichkeit oder Freundlichkeit, die angezeigt hätte, daß sich seine frühere mürrische Haltung geändert hätte.
    Diesmal versuchte ich nicht, eine Konversation anzuknüpfen, sondern lehnte mich in meine vorhergehende Schlafhaltung zurück. Mit halbgeschlossenen Augen döste ich vor mich hin, beobachtete ihn aber weiterhin neugierig unter meinem herabgezogenen Hutrand.
    Während der Zug weiter durch die Nacht ratterte, bemerkte ich, wie eine schleichende und allmähliche Veränderung die Miene des auffallenden Mannes überzog. Offenkundig überzeugt, daß ich schlief, bemühte er sich nicht, das merkwürdige Durcheinander von Gefühlen zu verbergen, das sich auf seinem Gesicht spiegelte und dessen Natur alles andere als beruhigend war. Haß, Furcht, Triumph und Fanatismus zuckten in verschiedenen Mischungen über die Linien seiner Lippen und die Augenwinkel, während sein Blick zu einem Widerglanz echt beunruhigender Gier und Wildheit wurde.
    Plötzlich wurde mir bewußt, daß dieser Mensch verrückt war, und zwar auf gefährliche Weise.
    Ich gebe zu, daß mich tiefes Erschrecken packte, als ich die Lage erkannte. Ich war am ganzen Körper in Schweiß gebadet und mußte mich sehr anstrengen, den Anschein von
    Entspanntsein und Schlummer aufrechtzuerhalten. Gerade damals bot mir das Leben viel Anziehendes, und der Gedanke, ich bekäme es mit einem mörderischen Verrückten zu tun, der möglicherweise bewaffnet und dessen Kraft geradezu ans Wunderbare grenzte, war entmutigend und erschreckend. Bei jeder Art körperlicher Auseinandersetzung war ich im Nachteil, denn der Mann war im wahrsten Sinn des Wortes ein Riese.
    Er schien in bester körperlicher Verfassung, während ich immer ziemlich schmächtig und gerade damals vor Angst, Schlaflosigkeit und Nervenanspannung beinahe völlig erschöpft war. Das war unbestritten ein böser Augenblick für mich, und ich fühlte mich einem

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