AZRAEL
noch«, antwortete Mark. »Ich glaube nicht, daß ich es schon ganz begriffen habe.«
»Wie auch?« Sein Vater schloß für einen kurzen Moment die Augen. »Ich habe es bis heute noch nicht ganz begriffen, und ich werde es wahrscheinlich auch nie. Vielleicht will ich es nicht. Ich schätze, wir haben alle Fehler gemacht.«
»Ja«, sagte Mark. »Es sieht so aus.«
Ein seltenes Gefühl breitete sich zwischen ihnen aus: Verlegenheit. Schließlich kam sein Vater um den Tisch herum und streckte die Hand aus. »Versuchen wir das Beste daraus zu machen, okay?«
Die Geste war theatralisch, rührend und irgendwie sogar ein bißchen albern, aber vielleicht wirkte sie gerade deshalb so überzeugend. Möglicherweise, dachte Mark, waren ja alle echten Regungen so - und er durfte auch nicht vergessen, daß sein Vater es nicht gewohnt war, Gefühle zu zeigen - ihm gegenüber schon gar nicht. Also griff er nach seiner ausgestreckten Hand und drückte sie, und im gleichen Augenblick, auf den Sekundenbruchteil genau, als hätte ein bösartiger unsichtbarer Regisseur im Hintergrund nur darauf gewartet, ging die Tür auf, und Beate trat ein.
Das Lächeln seines Vaters gefror. In seinem Blick erschien ein Entsetzen, das Mark nicht mit Worten beschreiben konnte, aber das in ihm selbst eine plötzliche Woge roter, rasender Panik auslöste: eine Furcht von solcher Urgewalt, daß er um ein Haar aufgeschrien hätte und herumfuhr, ohne die Hand seines Vaters losgelassen zu haben. Während des Sekundenbruchteils, den die Bewegung beanspruchte, war er hundert p rozentig davon überzeugt, zu wissen, was er sehen würde: das Ding aus seinen Träumen, die Bestie ohne Gesicht, die gekommen war, um ihn für all das Unrecht zu bestrafen, das er seinem Vate r in den letzten sechs Ja hren angetan hatte.
Doch unter der Tür stand nicht der Würgeengel, sondern Beate. Sie war in einer fast komisch anmutenden, nicht zu Ende geführten Bewegung erstarrt, und auf ihrem Gesicht lag noch ein verblassender Rest des Lächelns, mit dem sie eingetreten war, und das nun allmählich einem Ausdruck vollkommener Verwirrung Platz zu machen begann. Weder Marks überhastete Bewegung noch der Ausdruck auf dem Gesicht seines Vaters konnten ihr entgangen sein.
Mark ließ endlich die Hand seines Vaters los und sah ihm wieder ins Gesicht. Der entsetzte Ausdruck war aus seinen Zügen verschwunden, aber sein Blick flackerte wie eine Kerzenflamme.
»Komme ich... irgendwie ungelegen?« fragte Beate.
Marks Vater blinzelte ein paarmal. Er kämpfte um seine Fassung, und für einige Augenblicke schien es gar nicht sicher, daß er diesen Kampf auch wirklich gewinnen würde. »Wer..« murmelte er. »Aber das... das kann doch überhaupt nicht.. .«
»Das ist Beate«, sagte Mark. »Ich habe ihr von dir erzählt. Wir haben uns heute morgen in der Klinik kennengelernt.«
»Beate?« Irgend etwas schien fast hörbar hinter seiner Stirn einzurasten. Die Angst in seinem Blick erlosch und machte etwas anderem, Lauerndem Platz. Etwas, das Mark nicht einordnen konnte, aber das ihn fast noch mehr alarmierte als die lodernde Furcht zuvor. »Das ist Ihr Name?«
»Heute morgen war er es jedenfalls noch«, antwortete Beate mit einem kleinen nervösen Lächeln. Ihre Augen lächelten nicht, sondern suchten Marks Blick. Er beantwortete die unausgesprochene Frage darin mit einem ebenso stummen Achselzucken.
»Und Sie haben sich im St.-Eleonor-Stift kennengelernt?« vergewisserte sich Marks Vater.
»Ja, das habe ich dir doch erzählt«, antwortete Mark an Beates Stelle. »Was soll das?«
Sein Vater schwieg einige Augenblicke. Bevor er weitersprach atmete er hörbar ein, und er legte eine ganz bestimmte Betonung in seine Stimme. Er antwortete Mark, aber sein Blick blieb fest auf Beate gerichtet. »Weil ich diese junge Dame kenne, Mark«, sagte er. »Nicht persönlich - aber ich habe von ihr gehört.«
»Von mir?« fragte Beate überrascht. »Wieso?«
»Unglücklicherweise gehöre ich zu den Menschen, die niemals etwas vergessen«, antwortete Marks Vater. »Manchmal ist das ziemlich lästig, aber wie es scheint, ist es wohl in diesem Fall eher von Vorteil. Ich habe vor ein paar Monaten unabsichtlich einen Teil eines Gespräches mitgehört, das Professor Artner mit einer der Oberschwestern geführt hat. Es ging mich nichts an, und es interessierte mich auch nicht - wie gesagt, ein Zufall. Aber ich denke, ein glücklicher Zufall.«
»Für wen?« fragte Mark. »Was zum Teufel soll das Ganze
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