AZRAEL
jedem dunklen Winkel einen winzigen Moment verharrte. In seinem Gesicht arbeitete es. Er hatte die Hand nicht wieder aus der Tasche genommen, mit der er die Waffe eingesteckt hatte. Wozu brauchte er eine Waffe? Sie waren hier, um... um...
Petri preßte stöhnend die Hand vor die Stirn und zwang sein Gedächtnis mit einer bewußten Anstrengung, ihm zu verraten, warum sie hier waren. Es gelang ihm, aber dieser Gedanke blieb nicht einfach da. Er mußte ihn festhalten wie einen zappelnden Fisch, den er gefangen hatte und der immer wieder zwischen seinen Fingern hindurchschlüpfen wollte.
Was geschah mit ihm? Sein Gedächtnis begann zu zerbröckeln. Es war, als stünde er vor einer gigantischen Wand, auf der jede Sekunde seines Lebens aufgemalt war, und j e mand hätte damit begonnen, Steine aus dieser Mauer herauszubrechen. Er konnte hören, wie sie stürzten, und er konnte sehen, was hinter dieser Wand war.
Nichts. Nur Dunkelheit.
32. Kapitel
Vollkommen erschöpft sank Bremer zu Boden. Er verlor nicht wirklich das Bewußtsein, aber er war auch nicht wirklich wach; der Zustand, in dem er die nächsten Minuten verbrachte, war irgend etwas dazwischen. Alles verwirrte sich, wurde unscharf und leicht, und die Zeit zerbrach zu einer Aneinanderreihung verschieden langer, verschieden deutlicher Impressionen, die an den Nahtstellen nicht richtig zusammenpaßten. Er registrierte Schreie, Rufe, ein wildes Durcheinander von Stimmen und Lärm, von Motorengeräusch und kreischenden Bremsen, von Sirenen und Lichtblitzen: Bruchstücke der Wirklichkeit, die manchmal nahtlos, manchmal mit beinahe schmerzhaften kleinen Rucken aufeinanderfolgten und ihm zumindest eine Ahnung davon vermittelten, was um ihn herum geschah.
Jemand rüttelte an seiner Schulter, vielleicht zum zwanzigsten, vielleicht auch zum zweihundertsten Mal, aber erst jetzt fand er die Kraft, darauf zu reagieren.
Es war Sendig. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß und sah aus, als wäre es gehäutet, aber unter all dem Schmutz lag kein rohes Fleisch, sondern nur der rote Widerschein des Feuers, das noch immer am Ende der Gasse tobte.
»Bremer! So antworten Sie doch Wagen ist schon unterwegs!«
Diesmal war der Schnitt nahtlos gewesen. Erst als Bremer die Sinnlosigkeit dieses Satzes zu Bewußtsein kam, wurde ihm auch klar, daß es in Wirklichkeit zwei Sätze gewesen waren, deren Anfang und Ende er hörte. Dazwischen war eine unendlich dünne, kaum spürbare Naht, hinter der sich ein schwarzer Abgrund von vielleicht Minuten verbarg. Vielleicht auch von Stunden.
»Was?« murmelte er.
Sendig sah ihn für die Dauer eines schweren Herzschlages aus schmalen Augen an, dann fragte er »Alles wieder okay?«
»Ich.. ich glaube schon«, antwortete Bremer schleppend.
Ganz plötzlich waren seine Erinnerungen wieder da. Er setzte sich mit einem Ruck auf und sah sich wild um. »Wo ist der Junge?«
Sendig hob besänftigend die Hand. »Dem geht es besser als Ihnen«, sagte er. »Mann, haben Sie mir einen Schrecken eingejagt. Für einen Moment dachte ich fast, Sie hätten es hinter sich. «
Wenn es doch nur so wäre, dachte Bremer. Er hatte Mark mittlerweile entdeckt und wollte aufstehen, spürte aber selbst, daß seine Kraft dazu noch nicht ausreichte, und beließ es dabei, sich etwas gerader aufzusetzen. Mark saß mit angezogenen Knien, an den Kotflügel von Sendigs Wagen gelehnt, da und starrte ins Leere. Sein Haar war angesengt, das Gesicht voller Ruß und Schmutz, und er hatte auch ein paar Schrammen abbekommen, aber den wirklich schlimmen Anblick bot sein Arm. Jemand hatte ihm die Jacke ausgezogen, und sein Arm schien bis zur Schulter hinauf in einem nassen roten Handschuh zu stecken, von dem es gleichmäßig zu Boden tropfte. Bremer erinnerte sich voller Schrecken an die Blutspur, der er gefolgt war.
»Wieso lebt er noch?« fragte er impulsiv.
»Es sieht schlimmer aus, als es ist«, antwortete Sendig. »Er hat ein bißchen Blut verloren, ich habe den Arm abgebunden.« Als er Bremers zweifelnden Blick bemerkte, fügte er hinzu: »Der Krankenwagen müßte jeden Augenblick eintreffen.«
Bremers Kräfte kehrten allmählich zurück. Er mußte wohl einen leichten Schock erlitten haben, der ihn bisher vor dem Schlimmsten bewahrt hatte, aber nun, wo dessen Nachwirkungen abzuflauen begannen, spürte er auch all die kleinen und größeren Blessuren, die er davongetragen hatte. Seine abgebrochenen Fingernägel schmerzten höllisch, und sein Gesicht und die Haut auf seinen
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