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AZRAEL

AZRAEL

Titel: AZRAEL Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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nicht ganz einfach. Aber der Anblick des zitternden Häufchens Elend vor ihm machte ihm mit erschreckender Deutlichkeit klar, um wieviel jünger Hansen war. Dreiundzwanzig - im Grunde noch nicht viel mehr als ein Kind, dem man eine grüne Uniform und eine Waffe gegeben hatte und das Versprechen, damit schon gegen alles gefeit zu sein.
    Und das stimmte einfach nicht. Hansen war seit einem halben Jahr auf der Straße, und er hatte garantiert noch nichts Derartiges erlebt... Was von dem Selbstmörder nicht an seiner Uniform klebte, das hatte sich vor seinen Augen auf dem Wagendach verteilt. Ein einziger Blick in Hansens Augen reichte Bremer, um zu wissen, daß er diesen Schock vielleicht niemals wirklich verwinden würde.
    Mit einem Mal empfand er Mitleid. Aber selbst jetzt war es nur ein schwaches Gefühl. Viel stärker war der Zorn, der plötzlich in ihm emporkochte. Ein Zorn, der dem Verrückten galt - nein, dem Verbrecher der sich vor ihren Augen vom Balkon gestürzt und damit vielleicht nicht nur sein eigenes Leben zerstört hatte, sondern auch das dieses Jungen, der einfach noch ein paar Jahre gebraucht hätte, um mit etwas wie dem hier fertig zu werden.
    Er war eigentlich gekommen, um nach Hansen zu sehen und ihm von Sendigs bevorstehender Ankunft zu berichten und ihm zugleich den Rat zu geben, sich ein bißchen am Riemen zu reißen. Aber das ersparte er sich. Statt dessen fragte er in einem Ton, der selbst für seine Verhältnisse ungewöhnlich sanft war: »Kannst du aufstehen?«
    Im ersten Moment glaubte er, Hansen hätte die Worte gar nicht gehört. Sein Blick ging immer noch durch Bremer hindurch zu jenem imaginären Punkt irgendwo weit oben auf der Skala des Entsetzens. Aber dann, gerade als Bremer seine Frage wiederholen wollte, antwortete er doch.
    »Es... geht schon wieder«, murmelte er. »Es war nur... entschuldige. Es kam so überraschend, und...« Er verhaspelte sich, brach schließlich ganz ab und fuhr sich mit dem Handrücken über die Lippen. Bremer unterdrückte das Ekelgefühl, das beim Anblick der glitzernden Feuchtigkeit darauf in seinem Magen emporsteigen wollte, und half Hansen, sich ganz zu erheben.
    »Ich brauche nur ein paar Minuten«, murmelte Hansen. »Laß mich einfach noch ein bißchen im Wagen sitzen und ausruhen.«
    »Sicher«, antwortete Bremer. Er überzeugte sich davon, daß Hansen aus eigener Kraft stehen konnte, griff dann aber vorsichtshalber doch nach seinem Arm und führte ihn behutsam über die Straße, zurück zum Krankenwagen.
    Die Türen des großen Mercedes-Transporters standen weit offen, und die beiden Sanitäter und der Arzt saßen auf den lederbezogenen Liegen und rauchten. Bremer hätte nicht sagen können, wer von ihnen blasser war und stärker zitterte, doch alle drei sahen aus, als wären sie am Ende ihrer Kraft. Als H ansen und Bremer näher kamen, kletterte einer der Sanitäter aus dem Wagen und kam ihnen entgegen, doch Bremer machte eine abwehrende Handbewegung und deutete zugleich mit einem Nicken auf den Arzt.
    »Ich glaube, Sie sollten sich ein wenig um meinen Kollegen kümmern«, bat er.
    Trotz des unübersehbaren Zustands des Schocks, in dem sich auch der Arzt befand - Bremer registrierte nebenher, daß er kaum älter sein konnte als Hansen -, legte er eine erstaunliche Professionalität an den Tag. Mit einer einzigen Bewegung war er aus dem Wagen und bei ihnen, und seine immer noch zitternden Hände hinderten ihn nicht daran, Hansen am Arm zu ergreifen und zum Krankenwagen zu führen. Mit Hilfe eines der Sanitäter bugsierte er ihn auf eine der beiden Liegen und untersuchte ihn unverzüglich, rasch, aber trotzdem sehr gründlich.
    »Der Mann hat einen schweren Schock«, sagte er, während er bereits eine Spritze aufzog und den Sanitäter mit routinierten Gesten anwies, ihm zur Hand zu gehen. »Sie hätten viel eher kommen sollen.«
    Bremer schwieg. Er sah wortlos zu, wie der Arzt Hansen eine Injektion verabreichte, dann ebenso rasch und routiniert eine Infusion anlegte. Hansen protestierte schwach, aber es hätte ihm vermutlich auch nichts geholfen, hätte er es energischer getan.
    »Ist es schlimm?«
    »So schlimm ein Schock eben ist«, antwortete der Arzt. »Es besteht keine akute Gefahr, wenn Sie das meinen. Trotzdem nehmen wir ihn mit ins Krankenhaus - nur für alle Fälle. Falls Sie nichts dagegen haben, heißt das.«
    Diese Frage, dachte Bremer, zeugte schon von etwas weniger Professionalität. Ärzte gehörten normalerweise zu dem Personenkreis,

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