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AZRAEL

AZRAEL

Titel: AZRAEL Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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noch nicht sehen. Vor dem dunklen Hintergrund der Nacht erhob sich nur ein Gebirge aus Schatten, das ebensogut fünfzig Meter wie eine Million Meilen entfernt sein konnte. Er wußte, daß Sillmanns Fabrik zum größten Teil in den Gebäuden eines ehemaligen Gutshofes untergebracht war, aber die Schatten dort vorne deckten sich auf eine unheimliche Weise nicht mit seinen Erinnerungen. Sie waren zu schwarz und zu groß und sahen auf eine bedrohliche Art fast organisch aus, als wäre es etwas Lebendiges, das am Ende der Straße auf sie wartete. Wenn er genau hinsah, konnte er sogar Bewegung erkennen. Der Scha t ten schien zu fließen, wie ein zäher Ölfleck in schwarzem Wasser, und hier und da in dieser klobigen, finsteren Masse funkelten kleine Lichter, die manchmal erloschen, wieder angingen oder auch ihre Positionen veränderten, als wären es tatsächlich Augen, die ihm zublinzelten.
    Gerade, als diese Vorstellung die Grenze zwischen unangenehm und angsteinflößend zu überschreiten drohte, erkannte er, was es wirklich war: Das Fabrikgelände war von einem Ring hoher Bäume umgeben, deren Äste sich im Wind bewegten. So einfach war das.
    Bremer lächelte verkrampft. Er war wirklich nervös. Aber er hatte wahrscheinlich auch allen Grund dazu.
    Wo blieb eigentlich Sendig? Er hatte gesagt, daß er nach vorne kommen wollte, aber sie standen nun schon fast eine Minute hier, und hinten im Wagen rührte sich nichts. Bremer streckte die Hand nach der Sprechtaste aus, ließ den Arm aber dann wieder sinken und stieg statt dessen aus. Rasch umkreiste er den Wagen und öffnete die hintere Tür. »Sendig, wo blei -«
    Verblüfft hielt er inne. Sendig drehte ihm den Rücken zu und stand halb über Marks Liege gebeugt da. Seine Schultern verdeckten Marks Gesicht, so daß Bremer nicht sehen konnte, ob er wach war oder schlief, aber dafür sah er etwas anderes: Sendig zog gerade in diesem Moment die dünne Nadel einer Injektionsspritze aus Marks Vene. Als er das Geräusch der Tür hörte, fuhr er erschrocken zusammen und versuchte, mit einer hastigen Bewegung die Spritze verschwinden zu lassen.
    »Was tun Sie da?« fragte Bremer scharf.
    Sendig stand das schlechte Gewissen ins Gesicht geschrieben. Vollkommen absurd führte er seine Bewegung noch ein kleines Stück weiter und versuchte die Spritze in der Hand zu verbergen. »Er... er hat plötzlich das Bewußtsein verloren«, sagte er stockend. »Vor zwei Minuten. Ich wollte Sie nicht beunruhigen, deshalb habe ich nichts gesagt.«
    Bremer trat mit einem energischen Schritt in den Wagen hinein, packte Sendigs Hand und verdrehte sie so, daß die Spritze wieder sichtbar wurde. »Was ist das?«
    Sendig riß seine Hand los. »Dasselbe, was ihm der Arzt gegeben hat«, sagte er trotzig. »Was dachten Sie denn?«
    »Ich wußte gar nicht, daß Sie im Nebenberuf Arzt sind«, erwiderte Bremer. Er sah auf Mark hinab. Der Junge lag wieder schlaff und mit geschlossenen Augen da. Sein Atem ging gleichmäßig, aber sehr flach.
    »Das bin ich auch nicht«, sagte Sendig. »Aber ich habe Augen im Kopf. Ich habe mir einfach gemerkt, welches Mittel er genommen hat.« Er machte eine Kopfbewegung zu der Schublade hinter sich. »Gott sei Dank ist das hier ein sehr ordentlicher Laden.«
    Bremer glaubte ihm kein Wort. Seine Behauptung klang durchaus logisch, und doch: In diesem Moment war Bremer hundertprozentig davon überzeugt, daß Sendig Mark umbringen wollte. Möglicherweise hatte er es schon getan.
    »Was hätte ich denn tun sollen?« fuhr Sendig fort. »Er ist plötzlich zusammengebrochen. Sie wissen, was passiert, wenn er einschläft.«
    »Ja - da wäre es doch ganz praktisch, wenn er sterben würde, wie?« fragte Bremer kalt.
    »Unsinn!« sagte Sendig. »Denken Sie nach, Mann! Wenn ich ihn umbringen wollte, hätte ich das einfacher haben können.« Er atmete tief ein, fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen und sah einen Moment auf Mark hinab, ehe er in leiserem Tonfall fortfuhr: »Außerdem bin ich nicht einmal sicher, daß das etwas ändert. Denken Sie an das Mädchen.«
    Seine Worte machten Bremer schlagartig wieder klar, in welcher Lage sie sich wirklich befanden. Es spielte wahrscheinlich gar keine Rolle, was Sendig beabsichtigt hatte oder nicht. Sie durchlebten einen Alptraum, in dem die Gesetze von Ursache und Wirkung nicht mehr unbedingt galten.
    Marks linke Hand bewegte sich. Seine Lider zitterten, ohne sich zu heben. Trotzdem begriff Bremer, daß er dabei war, aufzuwachen. Wie es

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