AZRAEL
Sie, was passiert, wenn er herausfindet, daß Sie ihn angelogen haben?«
»Das habe ich nicht«, sagte Sendig ruhig.
»Ach? Sie -«
»Sie meinen den Keller?« Sendig wedelte so heftig mit seiner Zigarette, daß sie eine Spur hellroter Funken hinter sich herzog, die auf halbem Weg zum Boden verloschen. »Ich weiß tatsächlich, wo er ist. Und Sie auch.«
»Ich?«
»Das können Sie doch nicht vergessen haben!« sagte Sendig mit schlecht gespielter Verblüffung. »Wir waren dort, Bremer. Sie und ich und eine Menge anderer.«
Bremer riß ungläubig die Augen auf. »Sie... Sie meinen den Keller -«
»In Sillmanns Labor, genau«, sagte Sendig. »Also, man muß nun wirklich kein Tiefenpsychologe sein, um zu erkennen, daß er von dem Ort träumt, an dem alles angefangen hat. Sie erinnern sich wirklich nicht? Der Tisch, die vielen Kerzen...«
Bremer schwieg betroffen. Natürlich erinnerte er sich. Wie hatte er es vergessen können?
»Und das Mädchen?« fragte er. »Was ist, wenn er herausfindet, daß sie nicht mehr am Leben ist?«
»Ist sie das denn nicht?«
»Sie wissen genauso gut wie ich, daß sie tot ist«, sagte Bremer. »Sie ist in einem der Wagen verbrannt.«
»Wer sagt das?« fragte Sendig. »Mark hat nur erzählt, daß sie sie in den Wagen gezerrt haben. An das, was danach geschehen ist, kann er sich nicht erinnern. Und das sollte auch so bleiben, wenigstens für eine Weile.«
»Früher oder später wird er die Wahrheit herausfinden.«
»Wahrscheinlich«, gestand Sendig. »Aber so gewinnen wir wenigstens etwas Zeit.«
»Zeit wofür?«
»Verdammt noch mal, ich weiß es nicht!« Plötzlich war Sendigs Ruhe wie fortgeblasen. Er warf die Zigarette auf den Boden und stampfte wütend mit dem Absatz darauf. »Ist Ihnen eigentlich klar, womit wir es hier zu tun haben? Haben Sie überhaupt zugehört?! Dieser harmlose arme Junge dort drinnen ist ein Killer. Er hat wahrscheinlich an einem einzigen Tag ein halbes Dutzend Leute umgebracht!«
»Es ist nicht seine Schuld«, sagte Bremer.
»Klasse«, antwortete Sendig höhnisch. »Das werde ich auf unsere Grabsteine meißeln lassen: Es war nicht seine Schuld. Zum Teufel, Bremer, begreifen Sie doch: Dieser Junge tötet im Schlaf. Vielleicht erinnert er sich wirklich nicht mehr an das, was damals geschehen ist, aber irgend etwas in ihm tut es. Und dieses Etwas ist gerade beim Großreinemachen! Er bringt jeden um, der irgendwie mit der Sache damals zu tun hatte. Ich weiß nicht, was dieser Löbach und sein Vater mit ihm gemacht haben, aber er rächt sich dafür. So einfach ist das.«
»Das ist doch völlig verrückt!« widersprach Bremer - obwohl er ganz genau wußte, daß es die Wahrheit war. Er wußte es sogar sehr viel besser als Sendig.
Er bewegte sich zwei Schritte von Sendig und dem Wagen weg und sah sich um. Die Nacht war sternenklar, aber trotzdem sehr dunkel. Die Mauern der aufgelassenen Fabrik erhoen sich absolut schwarz rings um sie herum, und er kam sich eingesperrt vor, gefangen in einer Nacht, die nie wieder enden würde. Noch vor vierundzwanzig Stunden hätte er sich geweigert, auch nur über die bloße Möglichkeit nachzudenken, daß es Dinge wie diese geben konnte - und jetzt stand er hier und unterhielt sich ernsthaft mit Sendig darüber, wie sie einen achtzehnjährigen Jungen davon abbringen konnten, sie zu töten, indem er träumte.
» Ja « sagte Sendig. »Wahrscheinlich ist es das sogar. Aber haben Sie eine bessere Idee?«
»Nein«, sagte Bremer. Er starrte in die Dunkelheit vor sich, und für ein paar Sekunden wünschte er sich beinahe, daß der Schatten wiederkäme und es endlich ein Ende hätte.
»Sehen Sie«, sagte Sendig. »Ich auch nicht. Und jetzt steigen Sie ein, und fahren Sie uns zu Sillmanns Fabrik.«
»Und Sie?«
Sendig deutete auf die offenstehenden Hecktüren. »Ich bleibe bei ihm und passe auf, daß er nicht einschläft.«
41. Kapitel
S illmann hatte angefangen, die Kerzen zu entzünden. Es waren sehr viele - längst nicht mehr so viele wie damals, in jener furchtbaren Nacht, als Petri und er hergekommen waren und Mark schreiend und um sich schlagend inmitten eines Raumes voller Toter und Sterbender vorgefunden hatten, aber immer noch Dutzende, vielleicht Hunderte. Die Polizei hatte den Keller damals versiegelt, und alles war so geblieben, wie es war. Nur ein paar Kleinigkeiten waren verändert worden.
Er tat alles, um diese Änderungen rückgängig zu machen. E r hätte selbst nicht sagen können, warum, aber mit einem
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