Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
AZRAEL

AZRAEL

Titel: AZRAEL Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
Vom Netzwerk:
müssen, wenn er kommt. Kommt er heute?« Sie legte den Kopf auf die Seite und runzelte erneut
    angestrengt die Stirn. »Ich weiß gar nicht... War er gestern da, oder vorgestern?«
    »Vater war nicht vorgestern hier, Mutter«, sagte Mark, so ruhig er konnte. »Und er war auch gestern nicht hier, und er wird heute nicht kommen und auch morgen nicht. Er war seit fünf Jahren nicht mehr hier, und er wird dich auch in den nächsten fünf Jahren nicht besuchen.«
    Seine Mutter blinzelte verwirrt. »Was redest du da?«
    »Und ich gehe auch nicht mehr zur Schule«, fuhr Mark fort. »Weder heute noch morgen oder nach den Ferien.«
    »Nicht?«
    »Ich habe die Schule abgebrochen«, sagte Mark. Natürlich war es sinnlos. Sie hörte seine Worte vielleicht, aber sie bedeuteten nichts für sie, denn das, worüber er sprach, gehörte zu jenem Teil des Universums, der auf der anderen Seite des Abgrundes lag, hinter dem sich ihr Bewußtsein verschanzt hatte. Trotzdem glaubte er einen Moment lang - nein: redete es sich ein -, so etwas wie Begreifen in ihrem Blick aufflackern zu sehen.
    »Ich habe die Schule abgebrochen und bin aus dem Internat ausgezogen. Ich weiß noch nicht genau, wie es jetzt weitergeht, aber ich werde erst einmal hier in der Stadt bleiben, und ich verspreche dir, daß ich mich in Zukunft mehr um dich kümmern werde als bisher.«
    »Das ist wirklich lieb von dir«, sagte seine Mutter, »aber nicht nötig. Die Ärzte hier sind wirklich gut, und das Personal ist sehr zuvorkommend. Die paar Tage, die ich noch hierblei-
    ben muß, gehen auch noch vorbei. Dein Vater -«
    » Mein Vater«, unterbrach Mark sie so scharf, daß nur noch eine Nuance fehlte, und er hätte geschrien, »ist schuld daran, daß du hier bist, Mutter. Er hat dich hierhergebracht. Aber ich werde dafür sorgen, daß das nicht mehr lange so bleibt. Bisher konnte ich nichts tun, aber jetzt hat er keine Macht mehr über mich. Ich weiß noch nicht, wie, aber irgendwie hole ich dich hier heraus. Das verspreche ich dir.«
    Ein Versprechen, das er nicht halten konnte. Und er wußte es auch selbst. Die Worte waren nicht mehr als Ausdruck seiner Hilflosigkeit und der Wut, die immer noch tief in ihm schlummerte und immer wieder neu aufflammte, wenn er hierherkam und sah, was aus seiner Mutter geworden war. Er konnte es nicht einhalten, und er war nicht einmal ganz sicher, ob er es wollte. Ganz gleich, wie sehr er seinen Vater auch für das haßte, was er ihr angetan hatte - sie war nun einmal, was sie war, und mit Sicherheit war sie hier am besten aufgehoben. Mit ausreichend Energie, Zeit und einem Bataillon gewiefter Rechtsanwälte würde es ihm vielleicht sogar wirklieh gelingen, sie hier herauszuholen. Aber mit ziemlicher Sicherheit würde er sie damit auch umbringen.
    »Hast du eigentlich daran gedacht, den Videorecorder zu programmieren?« fragte seine Mutter plötzlich. Ihre Stimme klang ein bißchen alarmiert. »Du weißt, wie sehr ich Dallas liebe. Ich möchte keine Folge verpassen!«
    » Dallas läuft seit fünf Jahren nicht mehr, Mutter«, murmelte Mark. Laut und mit einem erzwungenen Lächeln sagte er: »Natürlich. Es ist alles auf Band. Du versäumst nichts, keine Angst.«
    »Ich weiß, daß es albern ist«, antwortete seine Mutter mit einem kleinen, verlegenen Lächeln. »Dein Vater wird immer ganz zornig, wenn er sieht, daß ich mir diese Serie anschaue. Aber ich mag sie nun einmal. Und jetzt erzähl mir von der Schule. Hast du immer noch so große Schwierigkeiten mit der Mathematik? Ich hoffe doch, du gehst weiter regelmäßig zum Nachhilfeunterricht - auch wenn ich nicht da bin, um auf dich aufzupassen.«
    Mark resignierte. Er hätte nicht enttäuscht sein dürfen – für seine Mutter war er noch immer zwölf Jahre alt und würde es auch immer bleiben -, aber er war es, so sehr, daß es beinahe körperlich weh tat. Manchmal, wenn er hier war, fragte er sich allen Ernstes, ob er es vielleicht aus dem einzigen Grund immer wieder tat, um sich für irgend etwas zu bestrafen. Trotzdem sagte er noch einmal: »Ich gehe nicht mehr zur Schule, Mutter. Ich bin seit gestern achtzehn. Ich bin volljährig und lebe jetzt mein eigenes Leben. Vater hat mir nichts mehr zu sagen. Und ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um dich hier herauszuholen.«
    Damit endete sein sinnloses Aufbegehren gegen die Wirk lichkeit aber auch. Er blieb noch fünfzehn Minuten, aber er schlüpfte mit jeder Minute mehr in die Rolle, die er für sie ohnehin spielte, seit er

Weitere Kostenlose Bücher