AZRAEL
Fahrer so selbstbewußt, wie er konnte, daß es noch eine Viertelstunde dauerte, und hoffte, daß die Adresse, die er ihm beim Antritt ihrer Fahrt genannt hatte, dessen Zweifel zerstreuen würde. Ganz gelang es ihm offensichtlich nicht, aber Mark gab ihm gar keine Chance, irgendwelche Einwände zu erheben, sondern drehte sich auf dem Absatz herum und ging wieder zurück zum Haus.
Dabei blieb sein Blick für einen Moment an einem Wagen hängen, der draußen auf der Straße geparkt war. Es war ein ganz normaler, durchschnittlicher Wagen; ein weißer Kombi, dessen Typ er nicht genau erkennen konnte – möglicherweise ein Japaner, vermutete er -, aber irgend etwas daran irritierte ihn. Genauer gesagt: darin. Er konnte die Gesichter hinter der Windschutzscheibe nicht erkennen, dazu war der Wagen zu weit entfernt, aber er sah sie als helle ovale Flecken, und das bedeutete, daß sie in seine Richtung blickten.
Beobachteten sie ihn?
Unsinn. Wer immer diese Männer waren - wenn es Männer waren -, sie saßen bestimmt nicht dort drüben im Wagen und observierten ihn. Er fing wohl allmählich wirklich an, Gespenster zu sehen. Mark schritt schneller aus, öffnete die Tür und schlüpfte so rasch hindurch, wie er konnte.
Die Cafeteria befand sich in einem Anbau auf der rückwärtigen Seite des Gebäudes, der fast vollkommen aus Glas und Chrom bestand. Mark war schon oft hiergewesen, aber noch nie so früh, und deshalb bot sie im ersten Augenblick einen ungewohnten, fast fremden Anblick. Er kannte diesen Raum voller Menschen - Patienten und Ärzte, Besucher und Schwestern, manchmal so viele, daß >Die Reise nach Jerusalem< zu einem beliebten und manchmal ziemlich verbissen geführten Spiel zu werden schien, aber jetzt war es dort fast leer. Außer Schwester Beate befanden sich nur noch zwei stämmige Krankenpfleger in dem großen, hellen Raum. Mark kannte einen von ihnen. Er nickte ihm flüchtig zu und ging dann zu dem Tisch am Fenster, an dem Beate Platz genommen hatte. Sie hatte sich bereits einen Kaffee besorgt und studierte scheinbar interessiert die Karte, was Mark ein wenig wunderte. Er kam nicht oft hierher, doch selbst er kannte die Speisekarte bereits auswendig. Sie wechselte nie; von den Preisen vielleicht einmal abgesehen.
»Schon was gefunden?« fragte er, während er Platz nahm.
Sie ließ die in Plastik eingeschweißte Karte mit einer fast erschrockenen Bewegung sinken und schüttelte den Kopf. »Ich glaube, ich lasse es bei einem Kaffee«, sagte sie. »Mir ist gerade aufgefallen, daß ich gar keinen richtigen Appetit habe.«
Natürlich stimmte das nicht. Viel wahrscheinlicher war ihr aufgefallen, daß ihre impulsive Antwort auf Marks vielleicht nicht ganz ernst gemeinte Frage leicht als aufdringlich mißverstanden werden konnte, und sie versuchte jetzt, das Beste aus der Situation zu machen. Er könnte sie direkt darauf ansprechen, überlegte Mark, und sie damit ein bißchen in Verlegenheit bringen. Darin hatte er ja mittlerweile Übung.
Statt dessen griff er mit einer bewußt forschen Bewegung nach der Karte, überflog sie rasch und sagte: »Die Rühreier kann ich empfehlen. Sie sind wirklich gut.«
»Ich weiß«, antwortete sie. »Ich lebe seit drei Monaten praktisch davon. In den ersten vier Wochen haben sie sogar geschmeckt.«
»Und in den anderen?«
»Auch. Aber mittlerweile kommen sie mir zu den Ohren
wieder raus. Lassen wir es bei dem Kaffee.« Und dabei, mich nicht noch weiter in Verlegenheit zu bringen, okay?
Mark zuckte mit den Schultern und bestellte für sich eine heiße Schokolade, und er gewann einen weiteren Moment, indem er scheinbar interessiert aus dem Fenster sah und den parkähnlichen Innenhof des Gebäudetrakts musterte. Wie die Cafeteria bot auch er einen ungewöhnlich verwaisten Anblick. Irgendwie schien heute alles anders zu sein, als er in Erinnerung hatte, nur weil er früher gekommen war. Es war erstaunlich, welchen Unterschied einige wenige Stunden machten. Offenbar gab es verschiedene Welten, die nebeneinander und am gleichen Ort existierten, nur durch die Tageszeiten getrennt.
»Ich möchte mich noch einmal in aller Form entschuldigen«, sagte er schließlich. »Mein Benehmen von vorhin - «
»War völlig in Ordnung«, unterbrach ihn Beate. » Ich bin es, die sich entschuldigen müßte. Für heute morgen, und für gerade.«
»Gerade?«
»Ich war, glaube ich, ein bißchen. . aufdringlich«, sagte sie verlegen. »Aber irgendwie haben Sie mich überrumpelt. Ich hatte das
Weitere Kostenlose Bücher